Schlagloch
: Medea in Manhattan

■ Von Mathias Greffrath

Eine Tragödie. Ohne psychologische Erklärung, ohne entlastende Soziallitanei.

B: Do you think you're good? C: What, a good fuck? B: No, „good“. I'm asking you: Do you think you're good? C: „Good“, what do you mean, „good“? What kinda question is that? Neil LaBute

Verstört stehen Teresa, Mike und ich vor dem Douglas Fairbanks Theater in der 42. Straße. Ich war durch Zufall dort und sie aus New Jersey gekommen, um die Serienstars Calista Flockhart (Ally Mc Beal) und Ron Eldard („Emergency Room“) zu sehen. Und nun haben sie die unerhörte Beichte einer Frau von 28 Jahren gehört. Unterklassenschnoddrig und zart hat die ihre Aussage gemacht: Über die Liebe zum jungen Lehrer, der sie immer nach Hause fuhr, weil kein Vater sie abholte, ihr von Euripides erzählte, ihr Billie Holiday vorspielte und sie küsste, als sie noch 13 war: „So'n Kuss wie damals, als sie das Küssen erfunden haben, so in den Tagen, als es noch Mythen gab und den ganzen Scheiß, na ja, als eben die Männer noch Helden waren und einen so küssen konnten, und dann wartete man ein Leben lang, bis er zurückkam, man wartete, und man konnte ihn noch nach Jahren auf den Lippen schmecken. Weil, damals bedeuteten Küsse noch was ...“

Mit 14 ist sie schwanger, beide wollen das Kind. Und deshalb verspricht sie ihm, seinen Namen nie zu nennen; als er trotzdem abhaut, bleibt sie treu, liebt, entsagt. 14 Jahre später besucht sie mit dem Sohn den Vater in Phoenix, man sieht sich in einem Motel: „Als er sich zu mir hinlehnte, um meine Wange zu küssen, sah ich etwas in seinen Augen ... ja, er liebte diesen Jungen, der ganze Scheiß, den er mir vor all den Jahren vorgesülzt hatte, das stimmte. Er liebte Kinder, wirklich. Aber da war noch mehr in diesem Blick ... er war ... auch ... zufrieden. Ich habe diese tiefe Befriedigung in seinem Gesicht gesehen ... weil er damit durchgekommen war. Er hatte das Schicksal überlistet.“ Eine halbe Stunde später wirft sie den Kassettenrecorder, von dem Billie Holiday singt, in die Badewanne mit dem Sohn. „Ob ich geplant habe, ihn zu töten? Wahrscheinlich länger, als Sie denken ...“

„Medea redux“ ist der erste von drei Monologen, die der 38-jährige Neil LaBute, ein Trash-Filmer und bekennender Mormone, geschrieben hat. Im zweiten, „Iphigenie in Orem“, opfert ein Angestellter sein Baby, um seinen Job zu behalten; im dritten, „Das Kichern der Heiligen“, bringen zwei gläubige Studenten einen alternden Schwulen im Central Park um, nur scheinbar einfach so, aus Fundamentalismus, aus Ekel, aus Jux – und: „Irgendwie sah er wie mein Daddy aus; aber warum ich mich von ihm küssen ließ, ich weiß es nicht, weiß es einfach nicht ...“

Mord, weil der Geliebte die Liebe verriet; Mord aus Angst, aus der Welt zu fallen; Mord am verachteten, abwesenden Vater – hier wird nichts erklärt, beschönigt, verstanden. Hier geschieht Tragödie. Nichts von der pyschologischen Erklärungswut, mit der uns Hillary gerade erklärt hat, dass Bill nicht anders konnte, weil er „psychischem Kindesmissbrauch“ unterlag. Keine erklärende, entlastende Soziallitanei über minderjährige Mütter oder die psychotische Struktur religiöser Überzeugungen. Sondern: Tragödie. Hier werden Menschen schuldig und haben keine Alternative. Weil sie so sehr lieben, so viel Angst haben, so leer sind, so allein.

„Nichts davon, das nicht jeden Tag passierte“, sagt die Teresa, die in New Jersey Jalousien verkauft. „So viel irrsinnige Scheiße. Spätestens wenn Schuljungs schwangere Lehrerinnen erschießen, denkst du doch: Hey, hier läuft was schief. Diese ganze Gewalt kommt doch davon, dass die Eltern nicht mehr da sind. Weil jetzt immer beide arbeiten müssen. Wir zahlen ja allein 1.500 Dollar Hypotheken, 600 für die Kinderbetreuung und 700 für die Krankenkasse. Die Großeltern können auch nicht mehr aufpassen, weil sie für ihre Arztrechnungen jobben müssen. Die Leute drehen durch, und das ist doch kein Wunder. Wir sind das reichste Land der Welt, und hier kann keine Familie mehr anständig und sicher leben. Ich bin für die Todesstrafe.“

Da schüttelt Mike, der Mechaniker, den Kopf. Und sie ruft: „Ich will ein Gewehr, an meine Kinder kommt niemand ran.“ Da nickt Mike. Die Schuldigen: das Internet, das Verbot, seine Kinder zu schlagen, ein Präsident, der seiner Praktikantin eine Zigarre reinsteckt. Warum kann keiner was tun, frage ich, in der Kneipe gegenüber vom Theater. „Da rückt etwas immer näher“, sagt Mike, „und du weißt nicht, wie du es handlich machen könntest, so, dass du etwas dagegen tun kannst. Und deshalb sehen alle weg, als wäre es noch nicht da.“

Unter dem hygienischen Schleier von Fernsehkommentaren, Soziologie und politischen Schuldzuweisungen legt Neil LaBute frei, was „unten“ nie verschwunden ist: die unerhörten, gewöhnlichen Tragödien, die halb gewollte Untat, das gleichgültige Böse. Die tödlichen Lösungen, wenn weder Arbeitsplatz noch Konsum, weder Kirche noch Sozialarbeit die Menschen noch zähmen, zivilisieren, ablenken. Das Stück Schicksal, auf das es dann eben doch hinaus läuft, wenn die Psychologen keine Planstellen mehr haben und keine Sozialdemokratie die Verhältnisse anklagt. Den moralischen Tod, der uns packt, wenn wir das eigene Leben wieder so ganz und so ernst nehmen, wie die Griechen, die Kinder, das „Volk“ es tun.

Dann wird es wieder einfach: fundamentalistisch. Vor allem unten. „Da gibt es ein Wort“, sagt LaButes Medea, „das irgendwie ausdrückt, wir hätten die großen globalen Entscheidungen und diesen ganzen Scheiß überhaupt nicht im Griff, wissen Sie? Na ja, ich hab auch so das Gefühl, wir treiben alle nur so rum, völlig chaotisch irgendwie, und es gibt nichts, was die Sache zurück auf die Gleise bringt oder wohin auch immer. Nichts. Wissen Sie, wir haben alles so falsch gemacht, und das schon lange, dass es sich fast schon okay anfühlt nach all der Zeit. Als ob es so sein sollte. Und da gibt es ein griechisches Wort dafür. Er hat mir das beigebracht ...“

Spätestens wenn Teens Schwangere erschießen, denkst du: Hier läuft was schief.

Am Schluss fällt ihr das Wort wieder ein. Da trinkt die Schauspielerin Flockhart ihr Wasserglas leer. Dann holt sie planmäßig und tief Luft. Und dann schreit sie. Aber das ist schon kein Schreien mehr. Sie kehrt ihr Innerstes nach außen. Sie brüllt etwas heraus, das noch viel tiefer ist als ihre Eingeweide. Einen Schmerz, der nicht bloß ihrer ist.

Später kommen die Gedanken: dass die Linke den Hass der Opfer rehabilitiert, dass sie nach dem Ende des falschen Sozialismus neue Worte für die Verzweiflung finden muss, damit die Teresas nicht immer für die Todesstrafe sein müssen und gegen die Mexikaner. Dass vielleicht schon bald ein paar kleine Theater die letzten, urmenschlichen Katakomben sein könnten, wenn aus allen Kanzlern Komödianten geworden sind, die Digitalflut kein Gefühl mehr kleben lässt, die Becks und Bondys dieser Welt Reklame schieben für Windsor und Tobacco. Dass man sich einfach umdrehen sollte, wenn einer Werte fordert und nichts über das Kapital sagt.

Aber zunächst war da nur dieser furchtbare Schrei, dieser gigantische Schmerz, aus dem Mund einer TV-Serienheldin, in einem kleinen Theater mit minimaler Ausstattung, off Broadway, geschrieben von einem „Teilzeitmoralisten“. Billiger ist die Wiedergeburt der Politik nicht zu haben.