„Man fühlte sich nicht deutsch“

■  Zehn Jahre nach dem Mauerfall scheint das gesamtdeutsche Selbstverständnis problematischer denn je. In Weimar eskalierte der Konflikt im Streit um die Kunst der DDR. Matthias Flügge, Vizepräsident der Akademie der Künste in Berlin, erkennt eine partielle Blindheit des Westens

taz: Die Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ in Weimar hatte innerhalb von einem Monat über 30.000 Besucher, in Königstein waren es zur Eröffnung von „Enge und Vielfalt – Auftragskunst der DDR“ nach zwei Tagen bereits über 1.000. Ist das, was man früher „Staatskunst“ nannte, heute eine neue massenwirksame Popkultur?

Matthias Flügge: Teilweise gibt es da sicher ein konservatives Rollback als Reaktion auf eine allgemeine Krise von Kunstbetrachtung. Die Leute sehen Bilder wieder – oder sehen wieder Bilder –, an denen zumal im Osten Erinnerungen hängen. Ein großer Teil der in Weimar ausgestellten Bilder war schon zu DDR-Zeiten Teil einer höchst ambivalenten Massenkultur. Die VIII. Kunstausstellung hatte über eine Million Besucher, die wurden nicht alle von Parteisekretären dorthin gepeitscht. Wichtiger ist, dass hier eine lange nicht ausgetragene Auseinandersetzung darüber stattfindet, wer die Deutungshoheit über die Biografien der Ostler hat. Es wollen doch nicht alle in diese Ausstellungen, weil sie die Kunst so toll finden, sondern weil sie das Gefühl haben, dass dort auf ästhetischer Ebene ein Konflikt um ihre Herkunft und Identität ausgetragen wird, der in den letzten zehn Jahren von wohlgemuter Politrhetorik verschüttet war. Es zeigt sich ja nicht erst jetzt, dass die Behauptung eines allgemeinen wiedervereinigt-gesamtdeutschen Selbstverständnisses eine Fiktion war.

Die Reaktionen der Künstler auf die Ausstellung in Weimar erschienen fast hysterisch. Ist der Grund eine wachsende Ostalgie, je länger die Geschichte der DDR vorbei ist?

Nein, das war keine Hysterie seitens der Künstler, sondern eine notwendige Verteidigung ihrer Arbeit. Der deutschlandweite Aufschrei kam ohnehin erst, als durch die nicht sehr klare und sehr wankelmütige Reaktion des Kurators Achim Preiß allmählich bei Kollegen, Sammlern und anderen Trägern des Kunstbetriebes aus dem Westen der Verdacht aufkam, dass hier auf ganz eigenartige Weise unterschwellig auch die eigenen Spielregeln berührt werden. Den Ostler hätte man ja irgendwie als Vertriebenenproblem behandeln können; aber als man merkte, dass Preiß mit seinem DDR-Panoptikum von einem Ende der gesamten bürgerlichen Kunstausübung redete, da schrien alle auf. Man soll das nicht als einen Oststreit allein definieren, es geht klar um einen Streit um Kunst am Ende des Jahrhunderts.

Sie haben angesprochen, dass es dabei auch um die Deutungshoheit geht. Ist das der klassische Konflikt zwischen Künstler und Kunsthistoriker?

Nein, denn Preiß hat alles, was ein Kunsthistoriker und Kurator tun sollte, wenn er eine Ausstellung mit Material macht, das er nicht kennt, verletzt. Es ging in dieser Ausstellung nicht um Deutung: Das individuelle Werk wurde völlig nivelliert und als Zeugnis für eine These verwendet, die aber niemals klar im Raum stand. Eine enorme Nachlässigkeit ist zudem der Gegensatz „Offiziell/Inoffiziell“, den die Ausstellung sogar im Titel trägt. Dabei weiß jeder, der sich auch nur ein bisschen mit der Entstehung und Rezeption von Kunst in der DDR befasst hat, dass die interessanten Leistungen in einem Zwischenraum entstanden sind. Damit hat Herr Preiß sich nie beschäftigt, und nach eigener Aussage interessiert ihn das auch nicht. Dann muss man das Recht haben zu sagen, na, wenn es dich nicht interessiert, dann lass die Finger davon.

Wenn jemand aus dem Westen ein solches Projekt vertritt, hätte er die Ausstellung dann nicht besser im Ruhrgebiet, etwa im Museum Folkwang in Essen, machen müssen?

Ich habe nie verstanden, warum man in Weimar ein Kulturfestival nahezu unter Ausschluss aller Leute mit einer Ostbiographie macht. Es fehlte von Anfang an der Versuch, einen Ost-West-Dialog zu führen, auch auf anderen Gebieten, die von europäischem Interesse sind. Der Ort selber wurde nur im Zusammenhang mit Buchenwald und mit Goethe thematisiert. Eine ernsthafte Frage nach kulturellen Eigenheiten Ostdeutschlands – als Teil Mitteleuropas – kam niemandem in den Sinn.

Unterschwellig wirken viele Umstände mit: Das ganze Geflecht der Ausstellungsarchitektur und die erste Ausstellung, die dieses Jahr im Gauforum gemacht wurde zur Kulturpolitik der Nazis, lassen erwarten, dass es im Programm des Kulturjahres um Aufarbeitung geht. Suggeriert Weimar: Hitler, die DDR, das liegt alles hinter uns, jetzt können wir Tabula rasa machen?

Das können wir nicht, und deshalb müssen wir andere Fragen stellen. Daher interessiert mich in der Ausstellung, die ich für Apolda mache und die Mitte September eröffnet, was uns im Osten eigentlich dazu verleitet hat, unsere Kriterien von Qualität, Authentizität, Individualität, Unabhängigkeit von ideologischen Vorgaben und letztlich eingekapselter Autarkie zu bilden. In Apolda erfinde ich einen imaginären Sammler, der von 1945 bis 1989 Bilder kauft. Er sucht in einem sich zunehmend abschließenden Raum – ab 1961 auch politisch und waffentechnisch –, nach Werken und Kunstleistungen, die in einem strukturellen Zusammenhang mit seinem spezifischen Erfahrungsfeld stehen, das er nicht verlassen kann. Andererseits ist er so weit angebunden an die internationale Diskussion, dass er allen Konventionen, die sich in der DDR über lange Jahre immer mehr verengen, misstrauisch gegenübersteht. Seine Hauptfrage an die Kunst ist: Wo werden diese Konventionen aufgelöst? Die Kriterien dafür werden aus den Bildern abgeleitet: Was war authentisch, was war überhaupt ästhetisch und bildmäßig denkensmöglich.

Wie unterscheidet sich das von dem westlichen Interesse an der DDR-Kunst?

In Apolda kommen Künstler wie Wolfgang Mattheuer und die ganze Leipziger Richtung, die im Westen mehr galten als im Osten, nur am Rande vor. Weil der Westen sie als eine Art Berichterstattung aus einem sonst schwer zugänglichen Feld gelesen hat und wir sie gelesen haben als letzlich affirmative Geschichts- und Sozialreportagen, die nichts Neues mitteilen können. Diese Kunst betraf einen internen DDR-Ideologie-Diskurs, aus dem wir uns früher oder später verabschiedet hatten. Wir suchten eher nach modellhaften Verhaltensweisen oder künstlerischen Entsprechungen für die reaktive Melancholie in einer hermetischen und kalten Welt. Die Rehabilitation der Sinne und des Individuums schien das wesentliche Feld der Kunst zu sein – wie bei Carlfriedrich Claus oder Harald Metzkes.

Es gibt subjektive Kriterien auf der einen Seite und offenbar objektive Verfehlungen auf der anderen. In Weimar sind Sachen falsch aufgearbeitet, schlampig recherchiert usw. Es bleibt bei einem schwammigen Eindruck von Staatskunst. Inwieweit versuchen Sie in Apolda, nicht nur subjektive Kriterien dagegenzuhalten?

Die Frage ist, inwieweit Apolda schon unter dem Druck von Weimar steht. Was mich generell stärker interessiert hätte als eine DDR-Ausstellung, wäre gewesen, parallele Entwicklungen, Modernisierungen im Osten und im Westen, wie sie ökonomisch und soziologisch mittlerweile durchaus untersucht werden, auch mal ästhetisch zu fassen. Wo driftet das auseinander, bis zu welchem Grad ist ein Maler wie Werner Tübke ein Vorreiter der Postmoderne, inwieweit ein Staatsillustrator von beschränkter Halbwertszeit. Oder die ganze Frage der Utopien in den fünfziger und sechziger Jahren und ihre künstlerische Ausformung, dafür Entsprechungen in den Ost- und Westdiskursen mal ganz vorsichtig zu untersuchen. Das ist sicher eine Aufgabe für die nächste Zeit, aber das kann nur ein großes Museum machen und das müsste vielleicht sogar ein Museum im Westen oder noch besser im Ausland sein, das frei von diesen Vorurteilen ist.

Kerstin Decker hat für die Entwicklung in der DDR das Bild von der Langsamkeit benutzt. Ist das auch ein Markenzeichen der Haltung zur Kunst?

Langsamkeit ist vielleicht die Verfahrensweise. Aber wichtiger scheint mir das andere Bedeutungsspektrum von Kunst, das im Osten aufgefächert worden ist. Die Frage der Ersatzkommunikation ist oft diskutiert worden: dass über Bilder ein gesellschaftlicher Diskurs geführt wurde, dem sich die Medien verschlossen haben. Unsere Idee war es, die Kunst davon frei zu halten. Weil wir gesagt haben, wenn anhand eines Bildes von Mattheuer die Rentnerfrage diskutiert wird, dann stimmt etwas an dieser Gesellschaft nicht, dann ist das kein Zeichen für wachsende Liberalität, sondern im Gegenteil für Verengung, denn die Rentnerfrage sollte in den Medien und in den zuständigen demokratischen Organen diskutiert werden. Es konnte nicht die Aufgabe der Kunst sein, zu legitimieren, dass es die nicht gab.

Das Projekt in Apolda reicht nur bis 1989, dann endet der Konsens. Sind Künstler wie Wolfgang Mattheuer und Willi Sitte an diesem Punkt in ihrer Entwicklung stehen geblieben?

Das sind sie schon viel früher. Aber von Sitte sind zwei wunderbare Bilder in der Ausstellung, von 1951, die die Überschwemmungen in der Poebene zum Thema haben. Bis in die späten vierziger Jahre hatte Sitte ein Standbein in Italien und war auch von der italienischen Malerei geprägt. Das sind Bilder, die in ihrem intelligenten Eklektizismus manches vorwegnehmen, was später die Transavantguardia-Maler machten, sie sind getragen von einer italienischen Formkraft und trotzdem zeitgenössisch. Mich interessieren Arbeiten, die einen Aufbruch anzeigen. Das hört zwar 1989 auf, aber man könnte diesen historischen Zusammenhang auch schon 1985 abbrechen.

Weil damals die ersten Auflösungserscheinungen im Kulturbereich sichtbar wurden?

Die gab es schon früher. Man könnte die ganze Kunstgeschichte der DDR als Geschichte der Auflösung schreiben. Zum Beispiel dokumentieren Sybille Bergemanns Fotos von der Entstehung des Marx-Engels-Denkmals schon 1976 diese Auflösung als Endzeit von Gewissheiten. In der vorgeblichen Dokumentation eines Aufbaus steckt die Dekonstruktion eines ganzen Systems. Das hat man im Westen vielleicht gar nicht so gesehen. Ich hab mich damals gewundert, dass sie dafür nicht in den Knast gekommen ist. Im Grunde gilt mein Augenmerk für Apolda einem geschichtlich abgeschlossenen Sammelgebiet – Künstler wie Via Lewandowsky oder Else Gabriel sind nicht dabei, das wäre unredlich gegenüber deren spezifischer Entwicklung.

Der Bruch nach 89 gilt auch den Kriterien des Politischen. Ein Künstler wie Hans-Hendrik Grimmling kann nicht verstehen, wieso er in Weimar neben einem Heisig hängt, der seinerzeit die Partei repräsentierte. Hier werden unter dem Begriff „Qualität“ Arbeiten von Staatskünstlern und Dissidenten harmonisiert.

Man kann das nicht nivellieren, und ich habe alles Verständnis für Künstler, die unter hohem persönlichem Risiko den Osten verlassen haben und sich jetzt vehement dagegen wehren, quasi heimgeholt zu werden. Aus solchen Gründen haben Peter Herrmann und Eberhard Göschel ihre Teilnahme in Apolda abgesagt. Das ist Teil der Diskussion und nicht nur ein deutsches Problem. Die Leute, die gegangen sind, hatten natürlich auch politische Motive, aber zum überwiegenden Teil wollten sie einfach dieses Spiel nicht mehr mitspielen. Sie wollten sich dem internen Wirkungsraum entziehen.

In Ländern wie Polen oder der CSSR war der internationale Kontakt schon früher gewährleistet. Deshalb haben junge Künstler dort heute weniger Probleme mit dem Bruch nach 1989.

Es gab in der Slowakei in den fünfziger und frühen sechziger Jahren eine Avantgarde-Bewegung – wenigstens bis 68 und danach im Verborgenen. In der DDR gab es wenige Versuche, sich mit diesen Künstlern auszutauschen. Ein Protagonist war Robert Rehfeldt und die um ihn versammelte Mail-Art-Szene. Die waren offen in alle Richtungen und bemüht, die Kommunikationslosigkeit zu überwinden. Die meisten der wichtigen Künstler sahen sich trotz der Abgeschlossenheit in einem internationalen Zusammenhang, der vor allem historisch begründet war. Man fühlte sich nicht als „deutscher Künstler“. Gleichwohl gab es eine Hemmung gegenüber den östlichen Ländern, manchmal auch Arroganz. Als die Grenze 1961 dicht gemacht wurde, haben sich die wenigsten an der osteuropäischen Avantgarde orientiert. Das war eine freiwillige Selbstbeschränkung, die im Nachhinein kaum nachzuvollziehen ist.

Von heute aus gesehen gibt es auch kulturpolitische Versäumnisse nach 1989: Man geht der Zwischengeneration der DDR-Kunst aus dem Weg. Zur Romantik-Ausstellung in London 1994 war Joseph Beuys, nicht aber DDR-Malerei vertreten.

Da wirken westliche Betrachtungsmuster nach. Man hatte sich ja – von ganz wenigen und schon festgeschriebenen Ausnahmen abgesehen – auf die „typischen“ DDR-Künstler kapriziert, nach dem Motto: Zeigt uns, was wir nicht mehr haben, richtige Maler, die große Bilder über Geschichte malen, oder solche, die etwas erzählen über die DDR. Die anderen, die Abstrakten, Konstruktiven, Alternativen, die haben wir schließlich selbst. Kritische Geister wie Grimmling und Lutz Dammbeck wurden oft aus politischen Rücksichten nicht geholt. Die sogenannten richtigen Ostkünstler verschwanden nach der Wende, wurden in Museen wie in Hamburg flugs abgehängt. Man hat auch nicht nachgekauft, ich weiß kein großes Museum in Westdeutschland, wo etwa ein Strawalde, Morgner oder Libuda hingen. Das sind aber Künstler von internationalem Rang. Es hängt mit dem Konformitätsdruck des institutionalisierten Kunstbetriebs zusammen und mit markttechnisch gesteuerten Ausgrenzungen, wie man sie wieder bei den Juryentscheidungen der Kölner Messe beobachten konnte. Ausnahmen gibt es auf der Ebene der Kunstvereine und in den ostdeutschen Museen selbst, die gerade ihre Bestände neu entdecken.

Die ganz junge Generation von Malern, die heute in Dresden ausgebildet werden, scheint dagegen konsensfähig zu sein – nicht mehr DDR-Muff, aber strenge Tradition mit Pop-Appeal. Ist das nicht eine fatale Rückbesinnung?

Das glaube ich nicht. In Karlsruhe lernst du genauso gut malen wie in Dresden. Ich halte das überhaupt nicht mehr für ein DDR-Phänomen.

Aber der Wunsch nach mehr Meisterschaft in der Malerei hat doch starke Bezüge zu den alten Größen der DDR?

Ist das nicht sowieso eine allgemeine Tendenz: Man malt wieder Bilder, die der Händler seinen Kunden unter dem Aspekt der Könnerschaft vorlegen kann? Und die zeitgenössische Botschaft ist auch sichtbar. Nach der ganzen Selbstreferenzialität ist das eine normale Bewegung, die auch aus dem Osten kommt, weil die Diskussion eben auch dort geführt wird. Auch bei dem Britpop-Maler Gary Hume sind die Bilder handwerklich solide.

Bleibt die Kluft zwischen historischer Aufarbeitung und aktueller Produktion. In Weimar wird insgesamt abmoderiert – erst Salonmalerei, dann die Nazis, dann DDR-Staatskunst.

Und parallel dazu die Apotheose bürgerlicher Kunst in der Sammlung Maenz. Viel hängt doch auch an der Vorstellung, wie die Sammlung von Paul Maenz in diesem Weimar/DDR-Kontext positioniert wird. Deshalb hat Maenz auch so scharf auf die Ausstellung von Preiß reagiert. Man muss allerdings sehen, dass die Sammlung von Maenz wie ein UFO in der Stadt gelandet ist, ohne dass man sie mit Kunst, die in Weimar während der letzten 20 Jahre gesammelt wurde, konfrontiert hat. Natürlich ist es wichtig, wenn man Arbeiten von Anselm Kiefer in Weimar sehen kann.

Jetzt soll im nächsten Jahr auch DDR-Kunst in dem Museum hängen. Vorher hatte man noch geplant, die Sammlung Maenz als historische Folie für moderne Kunst zu nehmen, auf deren Grundlage Weimar neue, zeitgenössische Arbeiten dazukauft. Damit wäre die DDR-Vergangenheit völlig ausgeblendet worden. Das ist jetzt nach dem Streit um „Aufstieg und Fall der Moderne“ nicht mehr zu machen. Man wird gezwungen sein, die verschiedenen Positionen zu vergleichen – auch auf der Grundlage von Arbeiten aus den Weimarer Depots. Interview: Katrin Bettina Müller
Harald Fricke