■ Der Polen-Besuch von Rau ist gut und schön – das Wichtige fehlt
: Die deutsche Schande

Wie gut, dass es in Franfurt (Oder) die Brücke der Freundschaft gibt, auf deren Mitte nach Bedarf polnisch-deutscher Versöhnungskitsch inszeniert werden kann. Gestern also eine neue „historische“ Begegnung der Präsidenten Deutschlands und Polens anlässlich des 60. Jahrestages, an dem die Truppen der Wehrmacht Polen überfielen.

Nichts gegen symbolische Gesten, nichts gegen Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg hat schließlich nicht irgendwie angefangen, sondern mit der Besetzung eines konkreten Landes. Viele Polen starben bei den deutschen Luftangriffen, Einsatzgruppen der SS mordeten, in Auschwitz wurden schon Menschen gequält, bevor das KZ zum Vernichtungslager wurde. Und im Generalgouvernement begann man schon früh, Menschen von der Straße wegzufangen, um sie der deutschen Kriegsindustrie zuzuführen.

Nicht umsonst hatte man deshalb den 1. September zum Stichtag gewählt, bis zu dem die noch lebenden Zwangsarbeiter des Deutschen Reiches, die die Ungunst des Schicksals in ihren früheren osteuropäischen Wohnorten, nicht zuletzt in Polen, belassen hatte, eine wenigstens symbolische Entschädigung erhalten sollten. Dass dieser Termin von der deutschen Industriestiftung versäumt, dass die Bundesregierung so gar keine Anstrengungen unternommen hat, sich zu einer wirklich symbolträchtigen Geste zu entschließen – das macht den 1. September ein weiteres Mal zum Datum einer deutschen Schande, deren Dauerpräsentation leider nicht zu erwarten ist.

Woche für Woche tilgen die Mitarbeiter der polnisch-deutschen Versöhnungsstiftung, die definitionsgemäß keine Ansprüche von Zwangsarbeitern befriedigt, die Namen der jüngst Verstorbenen aus dem Zentralcomputer. Jeder Aufforderung, man soll endlich einem vernünftigen Kompromiss zustimmen (es gibt solche Vorschläge!), jeder Mahnung, Alter und Bedürftigkeit der Ex-Zwangsarbeiter zu bedenken, folgt empörte Zurückweisung. Schließlich gilt es auch hier, das politische Primat des Kanzlers zu wahren: die Interessen der deutschen Industrie.

Zwischen Polen und Deutschland herrscht ein Grad politischen Einvernehmens, den 1945 niemand für möglich gehalten hätte. Polens Regierung neigt gegenüber Deutschland, das die Tür zur EU geöffnet hat, zu einer Politik der leisen Töne. Die Sache der polnischen Zwangsarbeiter wird zwischen Kwasniewski und Rau nur sotto voce angesprochen werden. Es gibt auch Opfer der Normalisierung.

Christian Semler