Nichts ist, wie es scheint

■ „Medea. Ein Prozess“ in der alten Post am Stephansplatz

Über den Boden ist ein hauchzartes Netz gespannt. Drei Frauen und drei Männer stehen wie eingefroren an den Flanken einer stählernen Rinne. Ein Grunzen, ein Kichern, ihre Starre bricht. Auf ein geheimes Zeichen hin tauschen sie ihre Posten, versteinern und beginnen das Spiel erneut. Doch die anfängliche Heiterkeit täuscht. Nichts ist wie es scheint in Silke Schulze-Gattermanns Inszenierung Medea. Ein Prozess, die nun in der alten Post am Stephansplatz Premiere feierte. Wie Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen greift das Stück Euripides' antike Tragödie auf – um sie gleichsam umzustülpen und neu zu deuten.

Von den reißenden Fluten, auf denen einst die Argonauten nach Kolchis segelten, blieb nur ein Rinnsal. Ausgetrocknet ist das stählerne Flußbett zu einer hohlen Kehle. An den Grundmauern Korinths schwelt die Pest. Erdbeben peinigen die Stadt. Ihr Herrscher hat seinen Thron auf einem verbrecherischen Fundament errichtet: Aus Machtgier hat Kreon seine erstgeborene Tochter Iphinoe ermorden lassen.

Aber bei Hofe verschließt man oportun die Augen und übertönt das Sakrileg mit Schmeicheleien und infantilen Abklatschspielen. „In diesem großen Getriebe spielt auch der seine Rolle, der es verpönt“, spricht Medea hellsichtig. Ein Wort nur braucht es, und das Lügengewebe reißt. Als sie, die fremde Zauberin aus Kolchis, das Verbrechen aufdeckt, fällt sie zugleich ihr eigenes Urteil: Die Eingeweihte wird zur Verräterin, die Anklägerin zum Sündenbock.

Auf der Suche nach der Wahrheit wechseln die sechs Schauspieler immer wieder Rollen und Identität. Losgelöst schweben sie als vielschichtige Fiktionen im Raum. Eindrucksvoll, wie Medea, mal sinnliches Weib, mal unergründliche Zauberin, an ihrem Geheimnis zu ersticken droht und ihr Mann Jason vom kraftstrotzenden Heroen zum höfischen Lakeien mutiert.

Text, Sprache, Bewegung und Handlung sind dicht miteinander verzahnt. Ruhige, fast meditative Sequenzen werden von gewaltvollen Eruptionen durchbrochen. Alles in allem eine schlüssige Inszenierung und überzeugend gespielt.

Ulrike Bals

noch 2. - 5. + 7. - 11. September, 20.30 Uhr, Post am Stephansplatz, Karten unter Tel. 439 64 39