Stapel von Zinksärgen in Rostow am Don

■ Moskau behauptet, die Rebellen in Dagestan besiegt zu haben, die Kämpfe dauern an. Schon schwelt der nächste Konflikt im Kaukasus

Moskau (taz) – „Die Operation in Dagestan wurde in kürzester Zeit mit minimalen Verlusten zu Ende geführt“, triumphierte Russlands neuer Premier Wladimir Putin. Bei Amtsantritt hatte er es Präsident Jelzin versprochen. Zwei Wochen, dann wollte er die aus Tschetschenien nach Dagestan eingefallenen islamistischen Rebellen vertrieben haben. Nun waren drei draus geworden. Es musste ein Schlussstrich gezogen werden. Die Siegesfanfaren tönten denn auch, als würde ein zweites Mal über dem Reichstag das sowjetische Banner gehisst.

Diesmal liegt der Feind aber nicht am Boden. Was in den Bergen Dagestans geschieht, entzieht sich selbst der Kenntnis der vor Ort stationierten Beobachter. Die russischen Streitkräfte bombardieren nach wie vor Dörfer, in denen sie Freischärler vermuten. Vergeblich suchen die Kameras in den letzten Tagen aber nach gefangenen, getöteten oder verwundeten Eindringlingen. Offensichtlich haben die massiven Bombardements die Freischärler nur in schwer zugängliche Täler vertrieben, nicht aber unschädlich gemacht, wie Armeequellen behaupten. So meldete der russische Geheimdienst FSB, Feldkommandeur und Rädelsführer Schamil Bassajew sei vernichtet worden. Das hielt den tschetschenischen Heros nicht davon ab, sich am nächsten Tag der Presse zu stellen.

Die russischen Streitkräfte – Einheiten des Innenministeriums und des Verteidigungsministeriums – haben weder aus dem Tschetschenienkrieg noch den Kämpfen der letzten Wochen eine Lehre gezogen. Resultat: Im Leichenschauhaus von Rostow am Don stapeln sich die Zinksärge gefallener Rekruten. Genaue Verluste werden offiziell verschwiegen.

General Wjatscheslaw Owtschinnikow, der die Operationen im Gebiet Botlich leitete, wurde wegen Inkompetenz abgesetzt, und die Truppen des Innenministeriums, die Polzeiaufgaben erfüllen sollten, mussten regulären Armeeeinheiten weichen. Wie schon während des Desasters in Tschetschenien arbeiten die Stäbe der beiden Ministerien gegeneinander. Nicht selten erfüllt es die Generalität der Armee mit Genugtuung, wenn die Rebellen den Kollegen des Inneren eine demütigende Niederlage beigebracht haben.

Hintergrund der Rivalitäten: Die Truppen des Innenministeriums gelten als Hätschelkinder Jelzins. Sie sind besser ausgerüstet und verdienen mehr. Ergebnis des Brotneids: unnötig hohe Verluste.

Inzwischen häufen sich die Stimmen in der Armee, die den Gegner „ in der Höhle des Löwen erledigen“ und damit Tschetschenien in den Krieg hineinziehen wollen. Nicht zufällig verhängte der tschetschenische Präsident Maschadow in Grosny den Ausnahmezustand. Weitet sich der Konflikt aus, hätten die radikalen Kräfte um Schamil Bassajew ihr Ziel erreicht. Der gemäßigte Maschadow wäre vollends isoliert.

Überzieht Russland Tschetschenien mit einer neuen Feuersbrunst, läuft die Bevölkerung zu den Feldkommandeuren über. Vorbehalte gegenüber dem religiösen Rigorismus der Wachhabiten würden nebensächlich. „Wir sind überall und nirgends“, umschreibt Bassajew seine Taktik. Sein Ziel: „Der Kaukasus wird eine große Konföderation bilden.“ Daher scheint es eine Frage der Zeit, wann die Freischärler eine neue Attacke lancieren.

Unterdessen reift an der Westflanke des Nordkaukasus ein neuer explosiver Konflikt heran. Seit vier Monaten stehen sich in der Republik Karatschai-Tscherkessien zwei Lager gegenüber. Aus den Präsidentschaftswahlen im Mai ging General Wladimir Semjonow, der der Volksgruppe der Karatschaier angehört, als Sieger hervor. Die Tscherkessen erkennen die Wahl nicht an. Für sie besteht kein Zweifel, dass der wahre Sieger ihr Kandidat Stanislaw Derew, Bürgermeister der Hauptstsadt Tscherkessk, heißt. Halbherzige Moskauer Vermittlungsversuche haben die angespannte Lage nicht entschärfen können. Eine höchstrichterliche Entscheidung, die den Vorwurf eines Wahlbetrugs zurückwies, hat die Gemüter der Tscherkessen noch erhitzt. Sie kündigten diese Woche an, die Republik zu verlassen und einen eigenen Laden aufzumachen.

Die Doppelrepublik mit den beiden Titularnationen ist ein Kunstprodukt der sowjetischen Ära, die nach der Devise „divide et impera“ Völker in Verwaltungseinheiten zusammenpferchte, die sprachlich und kulturell miteinander nicht verwandt oder sich sogar spinnefeind waren. Die Tscherkessen oder Adygeer sind ein autochthones Volk des Nordwestkaukasus. Die Karatschaier gehören zur turksprachigen Völkerfamilie. In der Republik stellen die Karatschaier 30 Prozent, die Tscherkessen indes nur 11 Prozent der Bevölkerung. Hinter dem ethnischen Konflikt scheint es um handfeste materielle Interessen zu gehen. Semjonow hatte angekündigt, einige Privatisierungsentscheidungen zu überprüfen. Obwohl Minderheit, bekleiden die Tscherkessen nicht nur die höchsten Staatsämter, angeblich halten sie auch 80 Prozent des ehemaligen Staatseigentums in ihren Händen. Klaus-Helge Donath