Auf der Suche, fast immer

Freitagabend ist das Handy das wichtigste Utensil. Vor allem für Singles, weibliche und männliche. Unterwegs sein, in Bewegung, in Kontakt. Das ist das einzige, was für sie zählt in Berlin, der Hauptstadt der Alleinstehenden. Eine Recherche an Orten, wo man Verheiratete und Paare nur ausnahmsweise trifft von Verena Kern

Schöneberg, im August, früh am Abend. Das Café M., Goltzstraße, ist gut besucht, genauso wie schon vor zehn Jahren, vor fünfzehn. Es lebt von seiner Vergangenheit, die noch immer stark genug ist, um Publikum zu ziehen. Ein paar Stühle mehr stehen jetzt auf der Straße, denn es ist Sommer, es ist heiß, und wir sind in Berlin. Alle wollen draußen sein.

Andreas hat den Schädel eines Gorillas. Sein Gesicht ist schön, seine Stimme dunkel. Über dem oberen Hemdknopf kann man Brusthaar erkennen. In der Brusttasche steckt das Handy. Dressman Andreas? Er ist leitender Angestellter in der Marketingabteilung eines Verlages. „Erotisch“, sagt er, „finde ich Krabben. Die großen, zum Aufpulen und Ausschlürfen. Das macht mich high.“

Solche Sätze kennt jeder Single. Es geht um Sport, Meditation, Tanzen, gute Bücher, gutes Essen. Und alles ist wahr. Andreas ist Mitte dreißig, alleinstehend, aber nicht allein. Kein Single ist ganz allein. Er hat Freunde, Verwandte, Arbeitskollegen, die alle wiederum weitere Leute kennen. Er bewegt sich in einem großen Fluss von Menschen, geht auf Partys. Wenn er sucht, muß er nicht weit gehen. Es gibt Bordelle, Kontaktanzeigen.

Andreas gehört nicht zu den Suchenden. Die letzte Beziehung endete vor vier Jahren. Mit seiner Ex, die aus derselben westdeutschen Kleinstadt stammt wie er, lebt er weiter zusammen, wie Bruder und Schwester. „Sex“, sagt er, „brauche ich nicht.“ Die Befriedigung, die ein gutes Buch bringt, gute Musik, ist größer. Jeden Abend geht er essen oder trifft sich mit Freunden in einer Bar. Das genügt.

Früher hat Andreas selbst nachts gearbeitet, als Barmann. Er kennt die Spielregeln. Ausgehen, um auszugehen. Wenn man mehr bekommt, ist es gut. Wenn man mehr erwartet, hat man ein Problem. „Jeder weiß das“, sagt Andreas, „alles läuft nach den gleichen Ritualen ab.“

Der promovierte Chemiker Achim, Ende zwanzig, zieht mit Freunden durch die Stammkneipen, nachdem er die ganze Woche bis spät abends in seinem Uni-Institut an seiner Karriere gearbeitet hat. Die Übersetzerin Judith, Ende dreißig, trinkt Wodka im Kumpelnest, weil sie nach der Arbeit Abwechslung braucht und danach wieder ihre Ruhe. Die Sachbearbeiterin Nadja, Mitte zwanzig, geht mit einer Freundin ins Kino, weil sie weder reden noch allein sein will.

Niemand verlässt seine Grenzen. Man geht im eigenen Kiez aus oder in die angesagten Läden. Zur Zeit ist es Mutter, nur eine Querstraße vom Café M. entfernt. Bis vor kurzem war dort ein Rentnercafé. Jetzt sitzt die goldene Jugend auf Biergartenbänken wie Hühner auf der Stange und läßt sich fernöstliche Spezialitäten servieren.

In der Oranienstraße haben alle Kneipen, Bars, Restaurants, selbst das italienische Feinkostgeschäft Stühle auf den engen Bürgersteig gestellt, nur zwei Schritte vom Verkehr entfernt. „In Berlin“, sagt Ludwig, „kann man sich frei fühlen.“ Es gibt keine Sperrstunde. „Man kann problemlos allein weggehen, man kann bis nach zehn Uhr draußen sitzen. Niemand stört einen“, sagt Ludwig. Die Straßenstühle sind aus Plastik. In der Kneipe Flammende Herzen sind sie braun, auf den Tischen stehen rote Grablichter.

Lange Zeit war das hintere Kreuzberg ein sterbender Bezirk und ist es teils noch immer. Über die Oranienstraße aber ist ein Revival gekommen, weil Kreuzberg kein Mythos mehr ist, seitdem die Touristen den Bezirk Mitte zu einem Freiluftmuseum machen und Kreuzberg meiden.

Ludwig hat sein Handy ausgeschaltet. Es liegt auf dem Tisch wie eine Trophäe. Immer wieder verlöschen die Grablichter. Sofort springt die Kellnerin herbei. Beim dritten Mal wehrt Ludwig ab, wozu die Mühe. Die Kellnerin lacht. „Nein“, sagt sie, „das soll so sein“, und zündet die Kerze wieder an. Vor ein paar Jahren noch hätte Ludwig die Gelegenheit genutzt und mit der Kellnerin einen Flirt begonnen. Heute schüttelt er den Kopf über ihr Beharren auf Ordnungsprinzipien und die Vorstellung, dass es Kerzenlicht braucht, um Atmosphäre zu erzeugen.

Ludwig versucht sich als Regieassistent. Er ist Anfang dreißig und lebt allein. „Mir fehlt die Leidenschaft“, sagt Ludwig. Für einen Moment schwimmt seine Hand über den Tisch. Er ist auf der Suche, ohne suchen zu wollen. Denn es ist kränkend, für etwas arbeiten zu müssen, das andere umsonst haben.

Im Hackbarth's in Mitte hat der Barkeeper um Punkt neun Uhr das Licht abgedimmt, zu einer Zeit, in der noch niemand in der Kneipe ist, für den Zwielicht von Bedeutung sein könnte. Es ist das Ritual des Kneipiers. Wenn der Abend beginnt, werden die Augen kleiner, der Alkohol fließt schneller. „Wo geht man hin, wenn man Single ist und etwas erleben will?“ fragt Ludwig. – „Ich bin kein Single“, sagt der Barkeeper, als spreche er von einer schweren Krankheit.

Der Keeper hat fleischige Lippen und einen kahlen Kopf. Er steckt in einem groben grauen Hemd, das mit Blumenmustern bedruckt ist. Er ist versorgt, er muss nicht konkurrieren, nicht gefallen. Die Anstrengung, die es bedeutet, auf dem Markt zu sein, kennt er nicht oder hat sie vergessen. Ludwig ist geschieden und hat zwei Kinder. Von der Ehe ist nichts geblieben außer Schulden und einem verhangenen Lebenshunger, der nach Liebe schreit wie nach einem Therapeuten. Das Handy des Barkeepers klingelt. Bevor er sich abwendet, sagt er: „Frag meinen Kollegen, der kennt sich besser aus.“

Auf einem leer stehenden Fabrikgelände an der Grenze zu Prenzlauer Berg gibt es eine Cocktailbar, von der es heißt, sie sei illegal. Der Laden nennt sich Cookies. Schon morgen könnte die mobile Gastroeinheit woanders sein.

Durch eine rostige Eisentür betritt man den Innenhof. Alles wirkt improvisiert, wie eine private Grillparty. Die morbide Kulisse ist exklusiv, das Licht spärlich, der Zustand der Toiletten vorschriftsmäßig. Es gibt einen Türsteher, einen DJ und Barmänner, die aussehen, als wären sie Gäste, jung und mit schönen Körpern. Niemand lächelt. Niemand ist allein hier, bis auf die Frau im tief geschlitzten Rock, die am Rand des Hofes auf und ab geht und telefoniert. Wo bleibst du, kommst du noch, lass mich nicht warten.

Ludwig hat sich ein Bier geholt, es ist eiskalt und abgestanden. Er richtet sich auf einen langen Abend ein oder ein langes Wochenende. Wer sein Limit schon vor dem Morgengrauen erreicht, wird allein nach Hause gehen. Wer es weiter schafft, zieht durch die Clubs, in denen es dunkel und heiß ist und die Musik laut.

Das Angebot, auszugehen, sich zu amüsieren und Leute kennenzulernen, ist in Berlin so groß, dass man einiges an Verhinderungsstrategien aufbieten muss, um nicht auf seine Kosten zu kommen. Und doch macht es keinen Unterschied. Berlin die Hauptstadt der Singles. Ihre Zahl, heißt es, nimmt beständig zu, genauso wie die Kneipendichte. „Das ist logisch“, sagt Ludwig. „Berlin ist die Stadt mit den meisten Einwohnern, also auch mit den meisten Singles.“

Sonntag früh, elf Uhr, Glogauer Straße. Der Kitkat-Club ist eine schalldichte Höhle, in der die Party niemals endet. Der Türsteher lächelt, während er die Taschen durchsucht. Drinnen ist es eng und schwül. Die Männer tanzen mit nacktem Oberkörper, die Frauen im Abendkleid, in Unterwäsche, in Lack.

Es riecht angenehm nach Schweiß. „I am looking for something special“, sagt einer und streicht sich über die Nase. Ludwig schüttelt den Kopf. Der Sex steht im Raum, er liegt in der Musik, im Tanzen. Ludwig lacht, er ist müde. Noch ein Kaffee, dann geht er. Auf dem Weg zur U-Bahn hört er die Mailbox ab.

Vor dem Club steht ein Paar neben einem Motorrad. Er hat der Helm in der Hand, sie ihre Autoschlüssel. „Was machen wir jetzt?“, fragt sie, „zum Schwimmen habe ich keine Lust mehr.“

Verena Kern, 35, taz-Autorin, geht gerne aus – allein oder in Begleitung, vor allem in Berlin, wo sie auch lebt