■ Protestkulturen
: Politik & Straße

Eine Regierung, ein Parlament und keine Bannmeile. Ein Rathaus, ein Landesparlament, 23 Bezirksverordnetenversammlungen. Etliche Parteien, Vereine, Bürgerinitiativen und drei Universitäten: Für den politisch Interessierten ist Berlin das Nonplusultra. Gemessen am politischen Angebot könnte man sich in Berlin gut versorgt fühlen.

Dennoch scheint das Verlangen, Politik nicht anderen zu überlassen, noch immer riesig: Im vergangenen Jahr gab es in Berlin 1.854 Demos. Pro Tag fanden also im Schnitt fünf Kundgebungen oder Umzüge statt. Unangemeldet demonstriert wurde 77mal, vierzehn Treffen verliefen unfriedlich.

Los geht das Berliner Demo-Jahr mit dem Luxemburg-Liebknecht-Marsch im Januar. Es folgen die 1.-Mai-Demonstration und die Nacht davor. 1998 kam bei den „Maifestspielen“ ein Polizeibeamter auf zwei Demonstranten. Es geht weiter mit dem Christopher Street Day und der Love Parade, die von Gegendemonstrationen wie der Hate oder Fuck Parade begleitet wird. Zwischen den Top-Acts traf man sich zur Hanfparade oder zum Protest gegen die Gelöbnisfeier. 1998 protestierten aber auch Abschleppfirmen für eine gerechte Auftragsvergabe, Inlineskater für die Integration in den Straßenverkehr oder Hausärzte für höhere Honorare.

1998 waren besonders Umzüge beliebt, die mit der Protestform „Demo“ kokettierten.

Wie bei der Schlacht auf der Oberbaumbrücke, wo 1998Demonstranten nicht gegen Polizisten, sondern mit Obst und Wasser gegen sich selbst kämpften. Zwar richtete sich das Happening auch gegen die Fusion von Friedrichshain und Kreuzberg. Tatsächlich schien es aber darum zu gehen, die Verachtung gegenüber dem „lächerlichen“ Recht auf Meinungsäußerung zu zeigen und die politisch Verantwortlichen zu ärgern. Diese Protestform steht aber schon wieder in Frage. Der „Spaßguerrilla“ wird nachgesagt, sie missbrauche jedes rechtschaffene Anliegen und mache Protest zur Freizeitbeschäftigung.

Die Berliner Protestkultur ist 1998 auch zum Thema der „anderen“ Seite geworden. So merkte der Chef der Gewerkschaft der Polizei kürzlich an, dass die Berliner im Vergleich zur Bonner Polizei nicht gerade zimperlich auftreten würde. Was die Metropolensicherheit angeht, ist für Polizeipräsident Hagen Saberschinsky allerdings die „Grenze absolut erreicht“. Etwa beim Fall des Polizisten, der auf der diesjährigen 1.-Mai-Demo solange auf den Kopf einer Frau einschlug, bis sein Holzschlagstock kaputt war.

Enno Bolten