Aufklärung in Sachen Bauchtanz

Alle reden vom neuen Berlin, keiner vom neuen Kreuzberg. Sein Sinnbild hat der einst als SO 36 bekannte Bezirk im gleichnamigen Club gefunden, beim schwul-lesbisch-türkischen „Gayhane“-Dancefloor. Inzwischen ist der Club auch unter Heteros einer der angesagtesten Geheimtips des Berliner Nachtlebens Von Daniel Bax

Samstag nacht in Berlin-Kreuzberg, so gegen eins: Vor der Türe des SO 36 tummelt sich, für diese Uhrzeit nicht ungewöhnlich, ein kleiner Pulk, auf Einlass wartend und palavernd. Bahnt man sich den Weg durch den blau schimmernden Schlauch, der den Eingangsflur des Ladens ausmacht, so stößt man im Saal auf eine Szenerie, die allerdings auch für Berlin ziemlich ungewöhnlich ist. Beim genaueren Blick erkennt man solariumgebräunte Türkinnen und Lesben mit Nickelbrille, macht türkische Transen sowie Machos im Muskelshirt aus, schwule Pärchen und kleine Heterogrüppchen.

Sie stehen oder sitzen beim Bier, und sie drängen sich auf der großzügigen Tanzfläche, die durch dicke Vorhänge mit Orientmuster abgetrennt ist, zu lautem türkischem, arabischem und griechischem Pop. Schwaden von Trockennebel trüben die Sicht auf ein Bild, das Filmregisseuren wie Fassbinder oder Fellini sicher gefallen hätte, während auf der Bühne zwei Go-go-Tänzerinnen – männlich und weiblich, beide im knappem Bauchtanzoutfit – die Vorturner markieren.

„Gayhane“ heißt der Ort, der so manche Gewissheit zu erschüttern vermag: Zum Beispiel die, dass Schwules und Türkisches nicht zusammen gehören. „Gayhane“ ist ein schönes Wortspiel, das allerdings nur im Türkischen Sinn macht. Ein Cayhane ist nämlich ein Teehaus, Meyhane heißen Wirtshäuser, und Gayhane ist folglich ... Seit zwei Jahren hat der „Homoriental Dancefloor“ sein Domizil in der Oranienstraße und zieht, jeweils am letzten Sonnabend des Monats, ein sehr gemischtes Stammpublikum an. Damit hat der Kreuzberger Kiez nicht nur ein monatliches Partyhighlight, sondern auch ein schönes Sinnbild für seine Veränderung nach dem Fall der Mauer gefunden. Denn nach der Wende verließen Autonome und andere Abenteurer in Scharen den einstigen Musterbezirk der westlichen Alternativen und rückten dafür ein in die östlichen Stadtteile Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Dort besetzten sie leerstehende Bauten, während grüne Kleinfamilien aus dem Kiez nach und nach ins Berliner Umland zogen, dem Traum vom eigenen Haus folgend. Übrig blieben die Türken und die Schwulen.

Um Oranienstraße und Kottbusser Tor lag schon lange das heimliche Zentrum des türkischen Berlin. Nirgends sonst finden sich auf engem Raum so viele türkische Banken und Reisebüros, Kassettenläden und Kebabimbisse, von kurdischen und türkischen Politvereinen ganz abgesehen. In den Auslagen der Bäckereien türmen sich zuckersüße Kekse und Fladenbrote, in den Vitrinen der Importshops stauben Gipsfigürchen, Billiguhren und Plastikrosen vor sich hin, prangen Hochzeitsfotos und Kitschgemälde.

In Richtung Oranienplatz reiht sich Männercafé an Cocktailbar, und selbst die italienischen Pizzerien oder der französische Croissantladen haben türkische Betreiber – ein Abbild der Vielfalt „türkischer“ Lebensstile in der Stadt, die längst nicht mehr auf einen einfachen Nenner gebracht werden können. Die schwule Szene wiederum, hier schon immer präsent, nahm sich der verwaisenden Konzerthalle im SO 36 an und ergänzte die Progammpalette der Ska- und Hardcorekonzerte um ständige Queerparties und schwul-lesbische Tanztees.

Auf einer dieser Parties hatte DJ Ipek ihren Einstand am Mischpult. Weil sie auf Lesbenfeten mit ihrem Wunsch nach anderer Musik als dem üblichen House- und Discoeinerlei häufig eine Abfuhr erhalten hatte, nahm sie die Aufforderung, im SO 36 einmal selbst aufzulegen, sofort an. Seit zwei Jahren sorgt sie für den Sound bei „Gayhane“. Ursprünglich mag Ipek keinen türkischen Pop, sondern eher die ruhigeren, politischen Stücke. Aber „türkischer Pop ist tanzbarer als die traditionellen Sachen. Zumindest für Menschen, die nicht daran gewöhnt sind“, hat sie gemerkt, und Gefallen an Tarkan & Co. gefunden.

In den Kassettenläden der Umgebung holt sie sich seitdem ihr Material, und ab und zu bringen ihr auch Freunde Musik aus Israel oder dem Libanon mit. „Ich war die erste, die schon vor vier Jahren Dana International gespielt hat“, ist sie stolz darauf, die Eurovisionsgewinnerin des vorigen Jahres schon entdeckt zu haben, bevor sie zur Schwulenikone aufstieg.

„,Gayhane‘ ist nicht nur eine Party, sondern ein Politikum“, ist DJ Ipek überzeugt, die auch am Migrantenzusammenschluss „Kanak Attack“ beteiligt ist. Ein Politikum, weil damit nichtdeutsche Homos erstmals sichtbar an die Öffentlichkeit getreten sind und so eine zuvor fehlende Selbstverständlichkeit geschaffen haben. Auch in anderen Städten, in Köln oder Hamburg, gibt es mittlerweile ähnliche Tanzveranstaltungen, aber so erfolgreich wie in Berlin sind sie bisher nicht. Vielleicht liegt es einfach an der größeren Zahl türkischer Homosexueller in der Stadt. Oder vielleicht am Tuntenglamour der türkischen Transenstars, die im SO 36 ein und aus gehen.

Zum „Gayhane“-Dancefloor gehört schließlich untrennbar auch der „Salon Oriental“ des Transentrios Fatma Souad, Lale Lokum und Sabuha Salam, der am 23. Oktober seine Sommerpause beendet. Mit Tee, türkischem Honig und Kabarett begrüßen sie die „Gayhane“-Gäste, bevor der tanzbare Teil des Abend beginnt. Ob ihr Programm nun „Raumschiff Orient“ heißt oder „Oriental Airlines“ oder ob sie schonungslose Aufklärung in Sachen Bauchtanz versprechen: Thema ihrer klamaukigen Sketche sind stets die bizarren Seiten des deutsch-türkischen Alltags.

Manchmal reflektieren sie auch aktuelle Ereignisse wie den „Fall Mehmet“, oder sie bedienen sich aus dem reichen Trashfundus türkischer Heimatfilme und anderer Billigstreifen. Dank seiner Protagonistinnen ist der „Salon Oriental“ zum stadtbekannten Aushängeschild der „Gayhane“-Szene geworden. Im Berlinale-Beitrag „Lola & Bilidikid“, mit dem der New Yorker Regisseur Kutlug Ataman der schwulen Kreuzberger Szene ein filmisches Denkmal setzte, debütierte die Transentruppe sogar in Nebenrollen.

Das „Gayhane“ ist in. Und das zieht Heteros an. Was auch ein Problem sein kann. Unter sich zu feiern ist nicht so einfach, wenn zu viele Zaungäste daran teil haben: Dann fühlt man sich beobachtet wie Exoten. „Aber die Party kommt eben an – und das Interesse wieder zurückzuschrauben, ist schwierig“, sagt DJ Ipek. Schließlich kann man nicht jemandem den Einlass verwehren, bloß weil er die „falsche sexuelle Orientierung“ hat.

Nicht, dass es keine anderen türkischen Diskotheken gäbe in Berlin. Aber wer zu „Gayhane“ geht, kommt eben wegen der besonderen Atmosphäre und der Gästemischung. Was in den üblichen türkischen Läden nie gelang, ist bei diesem Ereignis Routine: Dass nicht nur ein türkisches Publikum kommt, sondern auch viele Deutsche, homo oder nicht, die zu orientalischen Klängen tanzen. Und wenn ein Halay gespielt wird, ein mit fettem Housebeat wummernder anatolischer Volkstanz, dann liegen sich alle in den Armen und drehen sich im Laufschritt im Kreis. Das muss wohl von der Kreuzberger Luft kommen.

Daniel Bax, 29, taz-Kulturredakteur, seit fünfzehn Jahren Berliner, wohnt in Kreuzberg und mag dessen Sound. Kann aber keine türkischen Volxtänze