Das kleine Dorf in der großen Stadt

Der „Kiez“ behauptet seine zentrale Rolle im Gefühlshaushalt der Berliner, deren Horizont meist am nächsten Bahndamm endet. In den Gründerzeitvierteln mit ihren engen Hinterhöfen ist die soziale Lage häufig prekär, dennoch schlägt dort das Herz der Metropole. Die Zuwanderer aus der Türkei haben das Prinzip des Kiezes erneuert, die Neuberliner aus der Provinz haben es arg strapaziert. Eine Gebrauchsanweisung von Ralph Bollmann

Das Lexikon weiß wieder einmal von nichts. „Kiez“, behauptet der Duden, stehe „nordostdeutsch für Ort(steil), umgangssprachlich für Prostituiertenviertel“. Der Brockhaus hält es mit der These, es handele sich um eine „kleine Auenrandsiedlung in Form einer gedrängten kurzen Dorfzeile“, die „neben Burgen als Wohnsitz niederer Dienstleute slawischer Abkunft“ entstanden sei.

An der zentralen Stellung, die das Wort im Gefühlshaushalt der Berliner einnimmt, gehen solche Definitionen weit vorbei. „Jeder weiß, was das ist, aber man kann das schwer erklären“, erfuhr ein Ethnologe bei Feldstudien im Kiez. Und das Berliner CDU-Programm verspricht „lebens- und liebenswerte Kieze“.

Bei allem Brimborium, mit dem sich die Berliner wichtig machen: Die Sache selbst ist höchst banal. Der Kiez ist nichts anderes als das Dorf in der Stadt: Es sind jene paar Straßen, in denen der klassische Berliner seine Eckkneipe besucht und die täglichen Einkäufe erledigt – und die er, sofern er Rente oder Sozialhilfe bezieht, kaum je verlässt. Sein Horizont endet am Bahndamm oder an der Ausfallstraße, die das Revier begrenzen.

Wer dem Kiez entfliehen will und seine Heimat in Berlin als Ganzem sucht, wird schnell verzweifeln. Er wird sein Bier heute im Prenzlauer Berg trinken und morgen in Charlottenburg, er wird den Käse im französischen Kaufhaus an der Friedrichstraße kaufen und das passende Getränk in einer Wilmersdorfer Weinhandlung. Er wird vier Stunden täglich in der U-Bahn sitzen – und in den Supermarkt an der Ecke zurückkehren.

Das mag in Wien oder Paris nicht anders sein. Wo diese Städte aber ein Zentrum haben, das ihre Identität bestimmt, dort hat Berlin nichts als die Summe seiner Kieze. In der sogenannten Innenstadt, von der Ringbahn umschlossen, lebt noch immer jeder dritte Berliner. Den Touristen bleibt diese Welt verschlossen. Sie empfinden die Stadt als grotesk hässlich – weil Ost wie West ihre Verkehrsachsen mit brachialen Neubauten drapierten und damit eine Modernität vorgaukelten, von der die Stadt längst abgekoppelt war.

Aber dahinter, von diesen Achsen klar begrenzt, erhielten sich die Berliner Biotope mit ihren Gründerzeitbauten und engen Hinterhöfen. Schon immer war der Kiez ein Viertel der kleinen Leute. Heute ist er fast nur noch als soziales Problemgebiet vorstellbar. Der klassische Kiezbewohner konnte und wollte nicht wegziehen – nicht nach Westdeutschland und nicht in jene noblen Villen, biederen Reihenhäuser oder tristen Plattenbauten, die das Areal der Innenstadt umschließen.

Kein Wunder also, dass neben mediokren Bäckereien vor allem Eckkneipen und Getränkemärkte zu den sozialen Zentren eines Kiezes zählen. Anders als es der Mythos von der wärmenden Gemeinschaft glauben macht, beschränken sich die Kontakte meist auf diese Orte. Für einen Außenstehenden gehört Mut dazu, eine solche Kneipe zu betreten: Die Luft ist gesäuert von alkoholischen Ausdünstungen, der Umgangston rau, die Schamschwelle niedrig. Wer keinen Jogginganzug trägt, fällt auf. Vor manchem Schnapsgeschäft stehen die Kunden auch im kältesten Winter vor der morgendlichen Öffnung Schlange.

Weil die soziale Lage prekär und die Kaufkraft gering ist, werden Läden in rascher Folge geschlossen und eröffnet. Reinigungen oder Schreibwarengeschäfte, sonst in jeder Kleinstadt vertreten, gibt es höchst selten. Das Bedürfnis, gestärkte Hemden zu tragen oder Gedanken zu Papier zu bringen, ist in solchen Gegenden nicht ausgeprägt. Stattdessen offerieren skurrile Spezialgeschäfte Eier oder Knöpfe, Schusswaffen oder Angelbedarf.

Die Zuwanderer aus der Türkei haben die Idee des Kiezes mit neuem Leben erfüllt. An die Stelle der Eckkneipe ist in ihrem bevorzugten Wohngebiet das türkische Café getreten, an die Stelle des Schnapsladens der Obst- und Gemüsehändler. Das Prinzip bleibt das gleiche, auch wenn Familienbande den sozialen Abstieg abfedern und die Stimmung nicht ganz so gedrückt ist wie in den homogenen Quartieren der Urberliner.

Natürlich haben auch die linksalternativen Zuwanderer der achtziger und die Trendsetter der neunziger Jahre versucht, das Kiezprinzip zu adaptieren. Aus der Provinz in die Weltstadt gezogen, schufen sie sich eine dörfliche Heimat. Eröffneten in Kreuzberg oder Charlottenburg „Kiezläden“, in denen sie das Phänomen mit hohem theoretischem Aufwand erörterten, schufen sich vom Bioladen bis zum Weingeschäft eine eigene Infrastruktur. Heute preisen sie in höchsten Tönen und immer noch schwäbischem Dialekt die Vorzüge ihres Kiezes, kaum haben sie eine Wohnung in Friedrichshain ergattert. Dass sie dabei zerstören, was sie eigentlich suchen, will den Neuberlinern nicht in den Kopf. Sie verhalten sich nicht anders als Touristen auf der Suche nach Exotik.

Dass der ganz Rummel die angestammten Bewohner nicht eben amüsiert, versteht sich von selbst. Die Mieten steigen, lärmende Szenegänger rauben den Schlaf, schicke Designerläden vertreiben verschrobene Kiezgeschäfte. Ernsthaften Widerstand hat es trotzdem nicht gegeben, die Landnahme verläuft friedlich. Zu weit ist die biografische Gewöhnung an den unaufhaltsamen Niedergang schon fortgeschritten, als dass sich der traditionelle Kiezmensch noch auflehnen könnte. Manche Beobachter nennen es hochtrabend „Toleranz“. Dass es sich in Wahrheit um Emotionslosigkeit handelt, schmälert nur die Romantik, nicht den Wert des Phänomens: Ohne jene großstädtische Gleichgültigkeit könnte keine Metropole funktionieren. – Doch die meisten Neuberliner machen sich darüber keine Gedanken – und bleiben so ahnungslos wie das Konversationslexikon.

Ralph Bollmann, 30, taz-Redakteur, ist seit sieben Jahren Neuberliner. Er trägt nie Jogginganzüge