Vom Esel auf die Maus

„In der Tradition allein wirst du kleingeistig, und in der Moderne allein gehst du verloren.“ Elektronische Urlaubsgrüße aus den Internethäfen in der Ägäis für Internetsüchtige aus aller Welt  ■   Von Uwe Wandrey

„Domates, Patatoules, Kremidia, Marouli! „-Tomaten, Kartoffeln, Zwiebeln, Kopfsalat. Bauer Manolis folgt seinem Esel durch das Gassenlabyrinth von Paroikia, dem Haupt- und Hafenort der Kykladeninsel Paros. Wie das Ticken einer alten Standuhr hallt der Hufschlag auf dem holprigen Marmorpflaster. Dann und wann tritt eine schwarzgekleidete Frau aus einer windschiefen Tür, tapst eine weiß gekalkte Treppe hinunter und begutachtet die morgendliche Ernte. Manolis hängt die bronzene Balkenwaage über den Daumen, wiegt das Gemüse, wirft das Geld in die Blechbüchse und zieht weiter. Auf der Agora, der Marktgasse, parkt er den Vierbeiner an einem Hibiskusbaum, füllt einen Sack mit Gemüse und trägt ihn durch eine Flügeltür. „Wired Café: Syndhemeno Cafe“steht darüber.

Es ist der Seiteneingang zu einem Restaurant. Im Vorraum, der noch vor einem Jahr ein gepflegtes Speisezimmer war, stemmt Manolis seine Feldfrüchte über eine Gasse aus Rechnern und Monitoren und ab in die Küche. Im ersten Internetcafé der Urlaubsinsel gibt es außer Bits und Bites nichts zu beißen. Hier und da neben der Tastatur ein Sodawasser, ein Espresso. Alle sechs Plätze sind besetzt.

„Mein Leben ist sozialer geworden“

Was treibt die Touristen in das Internetcafé? Alina aus Israel ist gerade auf Europatour: „Ich kann ohne Internet und E-Mail nicht mehr leben. Ich benutze es ständig und überall. Ich kann ohne sie einfach nicht mehr sein.“ In den Ferien sendet sie meist Mails an ihre Freunde. Einige hat sie auf ihrer Reise persönlich kennengelernt, anderen ist sie im Internet begegnet. Am Keyboard nebenan klickert ihre griechische Freundin Sophia locker und lächelnd ihre E-Mails in die Welt: „Ich habe Alina letztes Jahr in England kennengelernt. In Athen schießen die Internetcafés wie Pilze aus dem Boden. Mindestens einmal in der Woche gehe ich da hin – bis ich endlich selber ein Modem habe. Dann können wir uns fast jeden Tag Mails zuschicken.“

Auch Maria aus Lissabon, die gerade die Tastaturlade zurückschiebt, ist internetsüchtig: „Mein Leben ist sozialer geworden.“ Im Urlaub streben in der Mehrzahl junge Frauen an die Keyboards. Begründer des Wired Café ist der polyglotte Grieche Nikolas Stephanopoulos. Er ist im Libanon aufgewachsen, studierte und unterrichtete dort Philosophie. Seit vielen Jahren führt er das „Levantis“, ein Restaurant mit orientalischer Küche. Es gehört ihm noch, nur hat er den Kochlöffel abgegeben.

Die Philosophie seines Geschäfts mit dem Internet: „Im Sommerhalbjahr bilden Touristen hier die große Mehrheit. Die brauchen ein modernes Kommunikationsmittel. Das macht den Urlaub hier attraktiver.“

Eselgeschrei draußen, Mausgetaste drinnen. Wie erträgt er den Widerspruch? „Alles besteht im Widerspruch. Die Widersprüche können ausgezeichnet zusammengehen. Wir haben die These und die Antithese, und nun schaffen wir die Synthese. Ich liebe die Mischung aus Tradition und Moderne. In der Tradition allein wirst du kleingeistig, und in der Moderne allein gehst du verloren.“

Elektronische Urlaubsgrüße gibt es im „Parosweb“ auch farbig bebildert. Esel vor Windmühle, Fischerboote bei Sonnenuntergang, geölter Po mit Palme. Die dauern zwar ein paar Minuten, treffen aber garantiert vor dem Absender in der Heimat ein. Die Schlangen vor Postschaltern und Telefonzellen sind geschrumpft. Dafür jetzt Staus vor den Computern. Inzwischen hat Paros vier öffentliche Internetplätze. Das „Marina Café“ an der Hafenpromenade betreibt seit acht Jahren der Kölner Betriebswirt und Gastronom Alfons Weber mit einem griechischen Freund: Seit diesem Frühjahr stehen im Innenraum drei Gäste-Computer. „Da kommen jetzt mehr Kids, allerdings gezielt fürs Internet. Ab und an schneien von den Yachten ältere Leute rein, die auch mal was verzehren. Aber meist rufen die nur ihre E-Mails ab, schreiben welche und verschwinden.“

Zu achtzig Prozent, schätzt Weber, wird das Internet für private E-Mails genutzt: „Ab und an siehst du mal ein Mädchen in Tränen aufgelöst hier rausgehen. Wahrscheinlich schlechte Nachrichten von zu Hause. Vielleicht ist der Freund von der Fahne gegangen oder jemand gestorben.“

Die Stunde im Netz kostet umgerechnet 15 Mark, abgerechnet wird nach Minuten. Mehr als sechzig Prozent behält der Wirt. Zwar hat er zunächst in Hard- und Software zu investieren, doch à la longue sind die Internet-Stations ein sicheres und sauberes Geschäft. Jedenfalls im Sommerhalbjahr. Der Kunde sitzt, und schon macht er Umsatz. Welcher gemeine Caféhausgast konsumiert sonst im Minutentakt?

Während die letzten Nachahmer noch ihr erstes Geld zählen, hat der Initiator der parischen Internetbewegung längst eine deutsche Firma engagiert, die ihm jetzt das Parosweb installiert: Ein wachsendes Netz aus bisher zehn Terminals in Gaststätten, Hotels und Cafés an verschiedenen Orten der Insel, die auf UKW-Frequenzen drahtlos untereinander und über ein Center mit dem World Wide Web in Verbindung stehen. Internetadresse: Parosweb.com. Zwischen den einzelnen Terminals ist die Übertragungsgeschwindigkeit so hoch, dass sich der Tourist auf der im Bergschatten liegenden Ostseite der Insel den Sonnenuntergang an der Westseite live aufs Zimmer holen kann. Wenn ihm danach ist.

Kreuz und quer Strom- und Telefonkabel

Nikolas Stephanopulos sagt über den eigentlichen Nutzen des Parosweb: „Internet ist der ideale Weg, dein Hotelzimmer, dein Flugticket oder deinen Mietwagen zu buchen. Du wanderst virtuell von einem Ort zum anderen und vergleichst.“ Die alten Eselspfade werden zu Trekkingpfaden umgewidmet oder kommen unter die Walze. Schnelle Autostraßen, Telefonkabel, Fernsehrichtstrahler, Satellitenantennen haben bereits die kleinsten Inseln mit ihren Netzen überzogen. Kreuz und quer spannen sich die Strom- und Telefondrähte über Äcker und Dörfer. Geteerte Masten ragen wie tote Bäume in die Luft. Noch vor fünf Jahren musste man zwei bis drei Jahre auf seinen Telefonanschluss warten. Wie selbstverständlich telefoniert man jetzt von seiner Terrasse aus mit dem Schwager in Australien oder faxt dem Onkel nach Toronto.

Noch haben nur wenige Parioten Zugang zum Internet, doch demnächst wird Manolis' Enkelsohn, der in Thessaloniki studiert, der Freundin auf Paros elektronische Liebesgrüße senden. Manolis selber hat die Insel nie verlassen, ihn plagt kein Fernweh. Sein Esel trägt ihn und sein Gemüse weit und schnell genug. Lesen und schreiben kann er nicht, die Neuigkeiten schnappt er auf der Straße auf. Ihm genügt zum Austausch ein Plausch mit dem Nachbarn.

Nicht mehr lange werden Manolis und andere wie die Vorväter ihre Esel zu Markte treiben. Nicht, weil man ihnen Steine in den Weg legte. Klar, das Gemüse kommt sowieso gekühlt, gespritzt, geklont mit den Fährschiffen, die Vierbeiner halten den Verkehr auf und lassen was fallen. Aber sie werden gebraucht fürs dörfliche Dekor, fürs Urlaubsfoto, auf Postkarten und Prospekten.

Langsam aber wächst auch das Interesse an heimischer Naturkost, ausgerechnet beim Internetzer. Und was sagt dem das vierbeinige Langohr? Es sendet wie anno dazumal und digital sein I und A. Synthese? Mensch mit Handy und Notebook auf Eselsrücken? Noch nicht gesichtet. Aber dann und wann ein User, dem der Esel tief in die Augen schaut und fragt: Weshalb so eilig grüßen, Mensch, was gibt's zu sagen, und warum bloß immer auf Sendung sein?