Und Mehr ist eben doch besser

■ John Adams, Komponist von „Nixon in China“, lenkt das Frankfurter „Ensemble Modern Orchestra“ beim Musikfest gewitzt durch wunderschöne, uramerikanische Klangorgien

Es passiert ja nicht allzu oft, dass man Dinge hört, die man noch niemals gehört hat. Umso erstaunlicher, wenn das Ungeahnte ausgerechnet über das Musikfest, das ja mit seinen ewig gleichen Namen in einer Wiederholungsschlaufe festzustecken scheint, hereinbricht; tosend hereinbricht. Der da ein bisschen Schlachthof-Magazinkeller-Hardcore-Sound in die noble Glocke hineinschwappen ließ, nennt sich Michael Gordon und auch das Programmheft weiß nicht viel mehr über ihn als sein Heimatland: Nicaragua. Dass eine Verbrüderung von Klassik und Rock, die über Paul McCartney-Requiem-Kitsch hinausgeht, wider Erwarten doch noch möglich ist, zeigen zwar immer mehr Leute von Heiner Goebbels bis zum Avantgardegitarristen Elliot Sharp mit seiner Liebe zu Streichquartetten. Doch vermutlich noch nicht allzu oft knallte die wall-of-sound so unerbittlich gegen des Hörers Schädel.

Der bedingungslose Wille zur Überwältigung, so könnte das geheime Motte dieses wunderbaren Gastspiels vom Ensemble Modern Orchestra, dessen kleinere Version zusammen mit der London Sinfonietta und dem Ensemble Intercontemporain lange Jahre die Vorhut der Avantgarde Europas bildete, lauten. Variante Eins einer großartigen Überforderung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit stammt von Charles Ives. Schließlich ließ Dirigent John Adams schon vor zwei Jahren diesen Verherrlicher amerikanischen Großstadtchaoses in Bremen erklingen (damals noch mit der Kammerphilharmonie). In einer Zeit, wo die Dadaisten in Europa Holzstücke vom Wegesrand mit Zeitungsschnipseln zusammennagelten, schichtete Ives verschiedene Stile, Stimmungen, Strukturen wild übereinander. Mehr ist nicht immer besser. Hier aber schon. Der Hörer ist nicht mehr Souverän über das Kunstwerk, verfügt nicht mehr über den vollen Überblick, sondern irrt darin herum wie in einem Dschungel. Aus allen Richtungen drohen Lärmattacken und lockt Zuckersüßes. Und draußen vom Gang tröpfelt ruhig und unberührt ein Schlagzeugostinato vor sich hin, dem man kurz Beachtung schenkt und es dann wieder vergisst. Eine Geigerin gar bekommt für ihr Solo extra einen zweiten Dirigenten zur Seite gestellt als Vorsichtsmaßnahme gegen Orientierungsverlust. Doch wenn irgendwo aus der Ursuppe Marschklänge an die Oberfläche tauchn, verwandelt sich John Adams in seiner augenzwinkernd-dandyhaften, eierschalenfarbenen Tom-Wolfe-Robe in einen zappelnden Blechsoldaten an einer Jahrmarktsbude. Denn im musikalischen Dickicht stürzt sich das Gehör immer auf das Griffige mit Wiedererkennungseffekt. Und das gibt es hier in Fülle. Aber nichts bleibt unwidersprochen. Während der erste Geiger solo schmalzt, über beide Ohren grinst, halb verzückt, halb ironisch, und ihm ein ebenso verzückter John Adams vom Podest herunter fast das Gesicht leckt, wispern die Kontrabässe Dämonisches. Und selbst zum Widerspruch gibt es einen Widerspruch. Der dritte Satz dieser vierten Sinfonie nämlich verstört durch radikale Abwesenheit alles Verstörenden. „Nationalhymnenfähig“ flüstert die Sitznachbarin.

Im Gegegnsatz zu Ives früher Postmodernität, zentriert Gordons „Sunshine of my love“ – es erlebte bei der aktuellen Ensemble-Modern-Tournee seine Uraufführung – seine Hörer auf einen fixen Grundpuls, der unaufhaltsam seinen Weg geht wie ein Terrorist. Oder wie jedermans Herzschlag, ohne Zäsur, ohne Pause. E-Gitarren sind sein Biovital-Stärkungsmittel. Auch dieses Stück ist mit Strukturen und komplizierten Nebenrhythmen zugeschüttet bis sich alles zu amorphem Brei addiert. Doch der Puls hämmert unverdrossen. Der Anfang ist nicht viel anders als der Schluß. Und alles könnte genauso gut bis in bekiffte Unendlichkeit weitergehen. Die Streicher mutieren zu schauerlich-schönen Sirenen. Nur einer der Geiger kann sich sein nettes Vibrato nicht verkneifen. Am Ende wirkt ein Drittel des Publikums entnervt, ein anderes lächelt seltsam entrückt: Überrannt zu werden bis man nichts mehr kapiert kann so schön sein.

Auch John Adams erweist sich in seinem Stück „Naive und sentimentalische Musik“ als überwältigungssüchtiger Rattenfänger. Vor allem beweist er im ersten und dritten Satz, dass nicht nur Bruckner Steigerungen auf viele Minuten anlegen kann. Kaum ist der Lautstärkeparameter ausgereizt, fällt irgendeine neue Instrumentengruppe ein und hält das Höher-Weiter-Mehr-Gefühl am Laufen. Dass zwar der erste Satz pompös zum Ende kommt, der dritte aber fragend aufhört, ist nur ein Scherz. Diese Musik hat keine Angst vor der großen Geste. Und im dritten Satz dieses fast brandneuen Stücks kehrt Adams auch wieder zu seinen minimal-music-Wurzeln zurück.

Die Besetzungsliste an diesem Abend ist wahrscheinlich länger als die Liste der amerikanischen Olympiamannschaft. Klavier, Harfe, Gewitterblech: Klassische Soloinstrumente, Kitsch und Bombast finden im Getümmel ihren Platz. Es bleibt der wunderschöne Eindruck grenzenlosen Überflusses. bk