Trauer – Gegengift des Nationalismus

Das Erdbeben in der Türkei setzte historisch gewachsene nationale Feindseligkeiten außer Gefecht: Grenzenlose Hilfsleistungen, und selbst türkische und griechische Zeitungen kommunizierten mit Headlines in der jeweils anderen Sprache miteinander  ■   Von Dilek Zaptcioglu

Afrika drückte auf Kleinasien und schob es ein Stück weiter Richtung Europa. Es dauerte eine Ewigkeit und hörte sich an, als ob ein Riese irgendwo unter uns tief ein und ausatmete. Zehntausenden raubte das Beben ihr Leben, die Überlebenden wurden schlagartig an ihre ungeheuere Verletzlichkeit erinnert. Das Abstrakte bekam Allgegenwärtigkeit.

„Wir sind nichts anderes als fragile Lebewesen auf einem kleinen Planeten“, erzählt der Fleischer nun, während er die Lammkoteletts zurechtschneidet, „trotz unserer ganzen, glorreichen wie miserablen Zivilisation reicht unser Wissen also nicht aus, um Katastrophen vorzubeugen, sie zu verhindern.“ Jeder versuchte auf seine Art mit der Katastrophe umzugehen, eine Erklärung dafür zu finden. Der alte Kutscher führt es auf die Sonnenfinsternis zurück, die Krämerin auf einen geheimen Vulkanausbruch unter dem Meer, und der Müllmann auf gar nichts. Die alte Nachbarin, die seit Generationen dasselbe Haus bewohnt, meint: „Es gibt kein Zuhause für uns Menschen“. Der sichere Grund, auf den wir traten, die geliebten und unveränderlichen Meeres- und Erdlandschaften vor uns mutierten über Nacht zu einer launischen Masse, auf die es plötzlich keinen Verlass gibt. Gnadenlos stellte die Erde uns alle gleich; gleich winzig, gleich verletzlich, gleich vergänglich.

Das eigentlich Unerwartete setzte aber mit den ersten Nachbeben ein, die immer noch fortdauern: Die Nachricht hatte andere erreicht und aufgeschreckt. Sie kamen, um Artgenossen zu retten, Menschen, deren Namen sie nicht kannten und nicht zu kennen brauchten. Sie verteilten Hilfsgüter, pflegten Verletzte und halfen inmitten von Leichenbergen Kindern, auf die Welt zu kommen. Der spanische Arzt Chea hielt im Feldlazarett in Gölcük ein Neugeborenes auf dem Arm und sagte, nach tausenden von Babys, denen er auf die Welt verhalf, habe er nicht annähernd das gespürt, was er jetzt fühle. Das Mädchen wurde auf den Namen seiner Tochter getauft: Rose Carmen.

Wenige Kilometer entfernt hießen die Neugeborenen allesamt „Israil“. Mütter in verstaubten Kopftüchern umarmten dort im Sahara-Zelt ihre jüdischen Ärzte. Mexikaner und Griechen holten Überlebende aus den Trümmern und freuten sich, gemeinsam dem Tod ein Schnäppchen geschlagen zu haben. Deutsche Retter wagten sich in Betonhöhlen, wo leises Stöhnen herausdrang.

Niemand kümmerte sich darum, wie der andere hieß, aussah, ob und an welchen Gott er glaubte, wie er seinen Tee zubereitete, wie er seine Wohnung dekorierte oder in welcher Sprache er nachts träumte. Hauptsache, er sprach, lächelte, lebte.

Wie Hollywood vor ein paar Jahren die Menschheit angesichts der Bösen aus dem Weltall zusammenschmelzen ließ, hat das gewaltige Erdbeben in der Türkei die unergiebigen Diskussionen um „meine Kultur – deine Kultur – Multikultur“ in fündundvierzig Sekunden und zumindest eine zeitlang ins Jenseits befördert.

Erst vor zwei Jahren hätten sich Türken und Griechen beinahe wegen eines lächerlichen kahlen Stück Felsens in der Ägäis bekriegt.

„Wir Griechen“, schrieb Anna Stergiou in Eleftherotypia, „haben in Familie, Schule oder beim Militär nur gelernt, dass die Türken unsere Feinde sind, es gab genügend historisches und politisches Anschauungsmaterial dazu. Wie kommt es, dass diese jahrhundertealten Hass- oder Rivalitätsgefühle an einem Tag weggewischt werden?“ Die Autorin wie auch Verfasser von hunderten von Leserbriefen in den griechischen Zeitungen beschrieben das immer ähnliche Gefühl: „Als wir zuschauten, wie man die Türken aus den Trümmern holte, bekamen wir Tränen in die Augen. Die Schreie der Überlebenden fühlten wir wie Fausthiebe im Magen. Wir gesellten uns zu den Klagegesängen der Mütter, die im nächsten Krieg mit uns vielleicht um ihre Söhne geweint hätten, wir stimmten unsere eigenen Lieder an, um ihr Leid zu beklagen.“

Griechen rannten zu Banken, um zu spenden, sie sammelten in Kirchen. Türkische Konsulate und Zeitungen wurden mit Briefen von anatolischstämmigen Griechen überhäuft, die verwaiste Kinder adoptieren wollten. Laut Zeitungsberichten kam in Chicago ein griechisch-amerikanischer Musiker namens „Jimmy“ übernächtigt ins türkische Konsulat und erklärte den Beamten in dem antiquierten Türkisch seiner Vorfahren, er wolle 5.000 Dollar spenden. Ein Reeder, dessen Mutter Istanbulerin war, schickte Kühlschiffe, um die Leichen der Opfer menschenwürdig aufbewahren zu helfen. Die griechischen Inseln vor der türkischer Küste wurden zu Zentren der Hilfsbereitschaft, der eingeschlafene Verkehr erwachte zum Leben. In ihren bunten, tuckernden Fischerbooten brachten sie Decken und Konserven, Geld und Windeln auf das Festland, wo sie sich beim Mokka ausruhten und gegenseitig „Yassou“ und „Merhaba“ riefen.

Die großen Tageszeitungen beider Länder kommunizieren per Headlines in der jeweils anderen Sprache miteinander: Während die Schlagzeilen der Hürriyet in sieben Punkten auf Griechisch „Efharisto Poli File“ – „vielen Dank Freund“ lautet, antwortet die griechische Ta Nea: „Hepimiz Türküz“ – „Wir sind alle Türken“. Ihre Leser gratulierten am nächsten Tag zu dieser in der Redaktion durchaus nicht unumstrittenen Entscheidung. Und als die Bilder von dem Athener Bürgermeister Avramapoulos über den Bildschirm flatterten, wie er in Begleitung seines türkischen Kollegen in Istanbul den am stärksten vom Beben betroffenen Stadtteil besuchte, ja, da konnte man sie eigentlich nicht voneinander unterscheiden: Beide sahen gleich klein und traurig aus.

Die Fähigkeit zu trauern erwies sich nach dem Erdbeben als das stärkste Gegengift des Nationalismus.

Wer nicht trauern konnte, sprach wie der türkische Gesundheitsminister Osman Durmus von „griechischem Blut, das wir nicht wollen“ oder der „armenischen Hilfe, die wir nicht nötig haben“. Der Minister hatte nicht damit gerechnet, dass die Menschen sich auf ihre Humanität besannen, dass sie ihre Gleichheit nicht nur dachten, sondern lebten, ja, dass diese Erfahrung die gewaltigste und wirklichste aller Erfahrungen war, die sie je empfunden hatten. Der umstrittene und in den türkischen Medien heftig kritisierte Minister blieb auf seinem Platz. Aber seine Denkweise wollte und will niemand mehr aus den Trümmern holen.

Auch andere gab es, die am selbstgeschaffenen Unterschied festhielten. Sie verteilten Flugblätter, in denen sie das Beben als eine Strafe Gottes für das Kopftuchverbot und die angeblichen Repressalien gegen die Gläubigen an die Wand malten. Sie sammelten Spenden unter „Muslimen“ und leiteten sie über ihre klandestinen Kanäle nur an die Gemeinden weiter, wo ihre eigenen „Brüdern und Schwestern“ lebten. Auch diese Islamisten, die sonst so gerne von Demokratie und Menschenrechten sprechen, haben sich unfähig erwiesen zu trauern.

Gleichheit der Menschen über alle selbstgeschaffenen Unterschiede hinweg: eine naive, emotionale Reaktion auf eine Katastrophe, nach der man unter Anleitung kühler Rationalisten wieder zum gewöhnlichen Hickhack zurückkehren wird? Eine Ausnahmesituation, deren Regel das ewige unfruchtbare Debattieren und Streiten um Glauben, Kultur, Ethnie oder Nation ist?

Wer den Schrecken fühlte, für den waren Unterschiede zumindest zeitweise sinnlos.