Lidokino
: Next Guru Now

■ In Venedig wimmelt es von klebrigen Soundtracks. Es mag an dem neuen Trend zu mehr Sex im Film liegen. Auch den hatte Stanley Kubrick wieder einmal vorhergesehen

Kürzer und komischer, und die Geschichte wäre erträglich. Vielleicht käme dann eine Geschichte überhaupt zum Vorschein. So aber schiebt Mike Leigh in „Topsy-Turvy“ über drei Stunden hinweg ein illustratives Bild hinter das andere, und die Story des Erfolgspaares, schlechthin des englischen Musiktheaters um 1880, geht dann so: Sullivan, der Komponist, fühlt sich von den Libretti des Texters Gilberts nicht mehr inspiriert und will nicht mehr weitermachen, doch da findet in London glücklicherweise eine große Japan-Ausstellung statt; Gilbert schreibt daraufhin „The Mikado“ und alles wird gut. Vor 110 Jahren und im Theater – mag sein. Heute im Kino – nein.

Überhaupt die Filmmusik. Sie verursacht mitunter die größten Schocks. Jane Campion haut einem gleich zu Beginn den ultrafetten Sound von Neil Diamond um die Ohren. „Holly, holy eyes“ – dam – dam – dam ... . Uff. Hatten wir das nicht glücklich vergessen?! Nun ja, es ist leicht spotten. Auch über (Holly) „Holy Smoke“, ihren aktuellen Film.

„Next Guru Now“, das Label eines Berliner Modedesigns, wäre kein weniger treffender Titel: Um ihre Tochter Ruth (Kate Winslet) aus den spirituellen Fängen eines indischen Meisters zu befreien, heuert die australische Familie Barron den nächsten Guru an. PJ Waters (Harvey Keitel), der amerikanische Spezialist, soll darin angeblich höchst erfolgreich sein, die üblichen mittelständischen Sektenkids von ihrer fehlgeleiteten Sinnsuche zu kurieren.

Dass er an Kate Winslet scheitern wird, ist freilich mit dem ersten Bild der tanzenden wilden Schönen klar. Durchtrieben, böse, aber auch verzeifelt wird sie mit Keitel „Come to my lovely India“ spielen; und der Meister, der den Verlockungen des dunklen Kontinents, welcher, wie wir seit Freud wissen, auch der Körper der Frau ist, nicht widerstehen kann, wird sich auch sofort zum Narren machen. Sonderlich heilsam ist die Kur also nicht. Weder für sie noch für ihn noch für den Zuschauer. Der sieht Keitel einmal mehr den masochistischen Trottel markieren. Angeblich scheiden am Ende aber alle in Respekt und Liebe voneinander. Nun, das mag für Kate und Harvey gelten, für die Zuschauer – nein.

Immerhin, es finden sich hinreißende Szenen in „Holy Smoke“. Ruths Schwägerin zum Beispiel fantasiert gern davon, mit Tom Cruise oder Sean Penn zu vögeln, während sie mit ihrem Mann schläft. Sie zieht dann ihre Nachttischschublade auf, deren Seitenteil sie mit den Fotos ihrer Idole beklebt hat. Campion lässt nun die Kamera den subjektiven Blick der Schwägerin einnehmen, und so sieht man, wie sich die Fotos auf der Nachttischschublade nach Daumenkinoart hin und her bewegen, quasi beginnen mitzubumsen. Auf dieses Bild muss man natürlich erst einmal kommen.

Kubrik, das muss man ihm lassen, hat jedenfalls DAS Thema, das die neuesten Filmproduktionen beherrscht, richtig vorhergesehen: SEX und sexuelle Fantasien. Nun ist aber nichts ermüdender und langweiliger zum Anschauen als die zehnte oder dreiundzwanzigste Nummer. Zumal die pornografische Anmutung der Filme doch sehr gering ist, trotz einiger Prätention. Frédéric Fonteyne verrät die Entwicklung seiner Geschichte in „Une liaison pornographique“ an die doofe romantische Idee, dass die Liebe, die aus dem puren Sex entsteht, sich tragischerweise nicht realisiert. Und Jang Sun Woos sadomasochistischer Sex mit Schulmädchen wirkt in weiten Teilen von „Lies“ wie ein fürchterlich bemühter Aufklärungsfilm. Immerhin in Korea handelt es sich um eine Cause célèbre, der Autor der Filmvorlage ging für seinen Roman wegen Pornografievorwurfs ins Gefängnis. „Holly, holy sex“ – dam – dam – dam ...

Brigitte Werneburg