Von der stillen Poesie des Einfachen

■ Zwei Ausstellungen zeigen Arbeiten des Londoner Architekten David Chipperfield – heute Abend stellt er in der Freien Akademie erstmals seine Berliner Museumsinsel vor

Theorie und Praxis verhalten sich nicht selten wie zwei ungleiche Brüder: Der eine soll ausgleichen, woran es dem anderen mangelt. Auf den Londoner Architekten David Chipperfield trifft das nicht zu, verdankt er doch sein internationales Ansehen gerade dem Umstand, dass er exzellent formulierte Gedanken auch in gebaute Realität zu verwandeln weiß. Erst kürzlich wurde der 46-Jährige für sein Gesamtwerk mit dem Tessenow-Preis 1999 ausgezeichnet.

In der Ausstellung „Recent Projects“ zeigt nun die Galerie Renate Kammer ausgewählte Arbeiten des Baukünstlers. Zur Eröffnung berichtet Chipperfield heute Abend in der Freien Akademie der Künste über aktuelle Planungen seines Büros. Dabei wird er der Öffentlichkeit erstmals den Masterplan der Berliner Museumsinsel vorstellen und an einem über sechs Meter langen Modell erläutern, das bis 3. Oktober in der Akademie verbleibt.

„Architektur ist physische Präsenz, und darin liegt ihre Kraft, sich auszudrücken“, lautet eine von Chipperfields grundlegenden Maximen. Aber gleichzeitig reflektieren seine Gebäude ihre Umgebung und kommunizieren mit ihr. Das Neue tritt in einen Dialog mit dem Alten und steht in Bezug zu dessen jeweiligem historischen und städtebaulichen Kontext. Chipperfields Bauwerke haben stets einen umfassenden Gestaltungsanspruch. Eigenwillig und von geradezu provozierender Schlichtheit fügen sie sich ein, ohne sich wirklich anzupassen. Ihre besondere Qualität liegt in der klaren Analyse der Aufgabe und der feinfühligen Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse.

Die verwendete Formensprache ist dabei nicht wirklich neu. Gleichsam als Déjà-vu der Moderne erscheinen Projekte wie das Privathaus in Deutschland und das Bürogebäude Kaistraße in Düsseldorf von 1996 sowie das zur Zeit im Bau befindliche Wohnhaus in Corrubedo im spanischen Galizien. Hier verschmelzen die Raumfunktionalität eines Mies van der Rohe mit der Flächenästhetik des Konstruktivisten El Lissitzky und der japanischen Klarheit Tadao Andos. Und doch entsteht daraus kein Abglanz, sondern eine eigensinnige Interpretation, der gerade ihre Zurückhaltung außerordentliche Kraft verleiht. Dieser Geist prägt auch seinen (just siegreichen) Wettbewerbsbeitrag zur Erweiterung der Friedhofsinsel San Michele bei Venedig. Die Grabfelder und Nischen sind in Höfen und Laubengängen angeordnet, die nicht nur den labyrinthischen Charakter der Stadt aufgreifen, sondern zugleich auch meditative Orte der Besinnung schaffen.

Die Poesie des Einfachen ist allen Entwürfen Chipperfields eigen. Der Reizüberflutung unserer Zeit begegnet er mit einer anspruchsvollen Architektur der Stille. Ulrike Bals

heute, 18 Uhr, Vortrag, Freie Akademie der Künste, Klosterwall 23, Di - So 11 - 18 Uhr; heute, 20 Uhr, Ausstellungseröffnung Galerie Renate Kammer, Münzplatz 11, bis 3. Oktober, Di - So 12 - 18 Uhr, beide Ausstellungen bis 3. Oktober