Der Sinn der Gewalt

Hans-Volkmar Findeisen und Joachim Kersten werfen einen unaufgeregten Blick auf jugendliche Gewalttäter. Das ist zwar ausreichend originell, aber leider nicht immer präzise   ■  Von Eberhard Seidel

Mit Moral im Gepäck versteht man nicht, wie Gewalt funktioniert. Aber muss man rechte Gewalt zu einem Medienhype verkleinern?

Jugend und Gewalt. Wer in dem vielstimmigen Chor einschlägiger Publikationen heute noch Gehör finden will, braucht zweierlei: eine originelle These und namhafte Fürsprecher. Das Autorenduo Hans-Volkmar Findeisen und Joachim Kersten hat beides. Alexander Kluge lobt das Buch „Der Kick und die Ehre“ als ein „meisterhaftes Plädoyer für den unaufgeregten Blick auf junge Gewalttäter“. Und die Autoren halten dem Lamento über sinnlose Gewalt und Werteverfall entgegen: Gewalt macht Sinn. Sie kann identitätsstiftend wirken, sowohl für die, die sie ausüben, als auch für jene, die sie fürchten. Und – nur wer den Sinn von Gewalt verstehe, könne erfolgreich intervenieren.

Für das richtige Verständnis jugendlicher Gewalt schlagen die Autoren einen Standpunkt der Beobachtung vor, der weit unterhalb des Feldherrenhügels gelehrter Erkenntnis und manichäischer Moral liegt. Nur so lasse sich eine Diskussion beleben, die in lebensfernen Dichotomien erstarrt sei – von gut und böse, Schuld und Sühne, Integration und Ausschluss.

Ist unser Blick in diesem Sinne erst einmal neu justiert, was sehen wir dann? Zunächst, dass unser vermeintliches Wissen über Art und Ausmaß der Jugendgewalt eine konstruierte Wirklichkeit ist. Diese Erkenntnis ist nicht mehr taufrisch. Aber es schadet nicht, sie zu wiederholen:

Es ist nicht richtig, dass Kinder immer mehr, immer öfter, immer jünger zu Gewalttätern werden.

Es ist nicht richtig, dass Gewalt etwas Alltägliches geworden ist.

Es ist nicht richtig, dass Jugendliche eine Gefahr für Alte sind.

Es ist nicht richtig, dass jugendliche Gewalttäter aus allen Schichten kommen.

Aber was ist dann die Wirklichkeit? Eine Banalität. Jugendgewalt hat es immer gegeben und wird es weiterhin geben. Daran werden Null-Toleranz-Strategien und härtere Strafen genauso wenig ändern wie Jobprogramme. Das ist keine frohe Botschaft für den Berufsstand der Anti-Gewalt-Experten. Aber ihr Scheitern ist vorprogrammiert, weil sie den Sinn der Gewalt für die Akteure nicht verstehen.

In einer Reihe von Reportagen gewähren die Autoren Einblick in so unterschiedliche Szenerien wie das Drogenmilieu in Hamburg, die „Nazi“-Jugend in Brandenburg, in Kick- und Kampfsportgruppen wie Hooligans, Autonome und andere Action-Fans sowie ethnisch definierte Cliquen türkischer und russischer Jugendlicher. Anschließend schauen sich Findeisen und Kersten in der Welt um. Berichten, was sich im Gangland Chicago tut, wie in Soweto, Australien und Japan mit jugendlicher Gewalt umgegangen wird.

Das alles ist so flott dahinerzählt wie ein sozialkritischer Videoclip auf MTV. Manchmal leider auch so ärgerlich. Zum Beispiel die Reportage über die Nazi-Jugend in Ostdeutschland.

Süffisant „demaskieren“ Findeisen und Kersten die Berichte über ausländerfeindliche Übergriffe im Berliner Umland als ein Konstrukt sensationslüsterner Journalisten. Zweifellos lassen sich hinreichend Belege finden von sensationsgeilen Journalisten, die ihre Geschichten zurechtbiegen, nur um dem Publikum den rechten Kick zu bieten. Ein Vorwurf, der schließlich auf die Autoren selbst zurückfällt. Die Brandenburger Fakten, die täglich die Polizeiberichte füllen und vor allem Menschen mit „nichtdeutschem“ Aussehen zu ertragen haben, werden so lange relativiert, ironisiert und zurechtgebogen, bis zum Beispiel als Ergebnis feststeht: Eine Stadt wie Magdeburg hat eigentlich nicht mehr Probleme mit rechter Gewalt als Stuttgart, sondern ein Imageproblem. Na ja. Mit dieser These kann man sicherlich eine Podiumsdiskussion der Berufsbetroffenen aufmischen. Aber mit den Verhältnissen vor Ort hat das wenig zu tun.

Warum die Autoren ausgerechnet die „Antirassistische Initiative Berlin“ der Lächerlichkeit preisgeben, lädt zu allerlei Mutmaßungen ein. Die Initiative gewährte in den frühen 90ern einer Reihe von Frauen aus dem nordöstlich von Berlin gelegenen Eberswalde Schutz. Unter anderem der Freundin von Antonio Amadeu, der 1990 von einem rechten Mob erschlagen wurde. Sie hätte wohl nicht viel mit der Obhut der Antirassisten anfangen können, geben die Autoren zu Protokoll. Keineswegs. Der antirassistische war der einzige Schutz in Monaten, in denen in Eberswalde die Wohnungen von Frauen belagert wurden, die mit Schwarzen liiert waren. Die örtliche Polizei schätzte die Lage damals ähnlich ein wie Martin Walser, Findeisen und Kersten noch heute: Alles nicht so schlimm. Alles von den Medien hochgespielt. Werten wir die Entgleisungen als Begleiterscheinung eines Standpunktes, der unterhalb des Feldherrenhügels gelehrter Erkenntnis liegt. Und wenden uns wieder den Stärken des Buches zu.

Was eint, über nationale Grenzen hinweg, die Cliquen und gewalttätigen Szenen junger Männer? Die Antwort: Hinter der Gewalt steckt ein Anspruch auf „(Wieder-)Herstellung einer männlich dominierten 'Welt‘, sprich 'hegemonialer Maskulinität‘ “. Dies ist ein unangenehmer Befund für eine Pädagogik der Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit, weil er Grenzen aufzeigt. Ein gut Teil des Sinns dieser Gewalt ergibt sich, so die Autoren, aus der Darstellung von Männlichkeit. Dies geschieht in der Verteidigung von Territorien, der Wiederherstellung der Ehre und in zwangsheterosexuellen Männlichkeitsbeweisen. Gerade bei Jugendlichen, die nur so Selbstwertgefühl herstellen können, sei dies so. „Ehre ist die Dividende dieser Form von Wertschöpfung.“

Nur wer die Gewaltereignisse in ihrem sozialen und kulturellen Kontext begreift, so die Autoren, wird ihr etwas entgegensetzen können. Nicht durch „Aufräumen“, sondern indem Jugendlichen etwas geboten wird, was ihr Selbstwertgefühl stärkt. Die in Deutschland vorherrschende Geschlechtsneutralität der Kontroll- und Besserungsinstanzen von Polizei, Pädagogik und Jugendgerichtsbarkeit, halten die Autoren für „eine kaum noch verzeiliche Dummheit“. Sie fordern dazu auf, mehr von Ansätzen der Kriminalitätsbekämpfung zum Beispiel in Südafrika oder in Chicago zu lernen. Dort wird inzwischen darauf verzichtet, jugendliche Gewalttäter vorsätzlich zu stigmatisieren, sondern versucht, ihnen durch wiedergutmachendes Strafrecht den letzten Rest an Würde zu lassen. Hans-Volkmar Findeisen, Joachim Kersten: „Der Kick und die Ehre. Vom Sinn jugendlicher Gewalt“. Verlag Antje Kunstmann, München 1999, 249 Seiten, 29,80 DM