Testfall für das „neue Ruanda“

Die RPF-Regierung in Kigali sonnt sich in militärischen Erfolgen und baut jetzt ein neues politisches System. Aber stabil ist Ruanda auf Dauer nicht  ■   Von Dominic Johnson

Berlin (taz) – Ruandas Regierung ist heute auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die Wirtschaft boomt, die ausländische Hilfe sprudelt. Die extremistischen Hutu-Milizen, die noch vor eineinhalb Jahren mit ihren ständigen Überfällen aus der benachbarten Demokratischen Republik Kongo weite Landstreiche unsicher machten, sind seit dem erneuten Einmarsch der ruandischen Armee im Kongo 1998 kaum noch aktiv. Ruandas Armee kontrolliert aus ihrer winzigen Heimat heraus ein Drittel des riesigen Nachbarn Kongo und hat dort vor kurzem dem mächtigen Verbündeten Uganda eine militärische Niederlage zugefügt. Selten konnte sich Ruandas herrschende „Ruandische Patriotische Front“ (RPF) in so vielen Erfolgen sonnen.

Aber zugleich mehren sich die Anzeichen kommender Spannungen. Die sozialen Ungleichheiten verschärfen sich – neben dem Wirtschaftsboom in Kigali wächst die Armut auf dem Land. Die Korruption an der Staatsspitze nimmt zu und führt zu politischem Streit – so hat letzte Woche das Parlament zum ersten Mal dazu einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Die andauernde Besetzung des Ostkongo verschlingt Millionensummen, kostet viele ruandische Menschenleben und viel ausländische Sympathie. Zugleich wächst im Land der Unmut darüber, sich in den endlosen Weiten des Kongo zu verlieren.

Als die RPF 1994 die Macht ergriff, wurde sie von den wenigen Tutsi, die noch in Ruanda lebten, als Befreier begrüßt. 800.000 Tote hatte der dreimonatige Genozid an Ruandas Tutsi durch Ruandas Hutu-dominierte Armee und Hutu-Milizen gefordert. Das Völkermordregime, gestützt von der Passivität der internationalen Gemeinschaft, brach schließlich zusammen und flüchtete ins damalige Zaire. Die RPF übernahm die Macht, und mit ihr die Elite jener ruandischen Tutsi, die 1959 und in den Folgejahren während der von Pogromen begleiteten Unabhängigkeit Ruandas nach Uganda geflohen waren.

Unter diesen Voraussetzungen ist Demokratie als Mehrheitsherrschaft für die RPF undenkbar. Sie würde aufgrund der Hutu-Bevölkerungsmehrheit eine reine Hutu-Herrschaft hervorbringen, was für die Tutsi seit der Erfahrung des Völkermordes nicht mehr akzeptabel ist. Machbar ist höchstens Demokratie als Gewaltenteilung, die das Spiel der politischen Kräfte gerade so weit ermöglicht, wie es die RPF-Hegemonie nicht gefährdet. Neue kommunale Institutionen und ein zaghaft wieder zum Leben erwachendes Mehrparteiensystem sind die ersten Signale für den von der RPF gewünschten Nach-Genozid-Konsens, der zugleich ein Konsens über die Alternativlosigkeit der eigenen Herrschaft sein soll.

Zur Absicherung dieses Systems werden gesellschaftliche Veränderungen durchgeführt, oftmals ziemlich autoritär. So ist in diesem Jahr eine massive Umsiedlungspolitik auf dem Land im Gange. Statt wie traditionell in verstreuten Gehöften zu wohnen, sollen die Bauern in Dörfern leben, die zugleich den Kern einer neuen Verwaltungsstruktur bilden. In dieser ursprünglich von den sozialistischen Experimenten Tansanias und dem Movement-System Ugandas kopierten Struktur fanden in diesem Frühjahr erstmals direkte Wahlen zu neuen Kommunalvertretungen statt: „Dorfzellen“ von jeweils 50 Familien wählen jeweils einen zehnköpfigen Rat, der über die Landnutzung des Dorfes entscheidet und auch die Verwalter der nächsthöheren Ebene des kommunalen „Sektors“ bestimmt, auf der Entwicklungsgelder zum Einsatz kommen und auch kommunale Gerichte für Völkermordprozesse auf lokaler Ebene eingesetzt werden.

Es ist ein gigantisches Experiment der Neuverteilung politischer Macht auf der Mikroebene, bei dem alle vorherigen politischen und ethnischen Loyalitäten offiziell nicht mehr zur Schau gestellt werden dürfen. Die RPF ist dabei, Ruandas Volk aufzulösen und sich ein neues zu wählen.

Diese Entwicklung hin zu einer neuen Bevölkerungsstruktur begann in Wahrheit schon vorher. Im Völkermord von 1994 starben bereits fast alle damals in Ruanda lebenden Tutsi – die wenigen Überlebenden, die sogenannten rescapés, leben bis heute in teils menschenunwürdigen Verhältnissen, traumatisiert und marginalisiert. Große Teile der vorherigen Hutu-Mehrheitsbevölkerung flohen nach der RPF-Machtergreifung nach Zaire. Viele sind zwar zurückgekehrt, seitdem die RPF-Armee 1996 die ruandischen Flüchtlingslager in Zaire zerschlug. Aber viele andere sind entweder ums Leben gekommen oder Teil der kongolesischen Gesellschaft geworden, und die Rückkehrer finden sich am unteren Rand der ruandischen Gesellschaft wieder.

Es gibt keine Familie in Ruanda, die das vergangene Jahrzehnt ohne Opfer und ohne Erschütterung ihrer sozialen Stellung überstanden hat. Die vordergründige politische Stabilität Ruandas war bisher das Gegengewicht zu diesen sozialen Umwälzungen. In dem Maße, wie die Ruander wieder zur Ruhe finden, können sie vielleicht auch wieder die Politik in ihrem Land gestalten.