Nur Abweichungen sind interessant

■ Der „Skandal“-Autor von „Last exit Brooklyn“, Hubert Selby jr., liest am Freitag im Schlachthof und sprach zuvor mit der taz

Wie ein Ticker-Band aus der Hölle sei der Erzählfluss Hubert Selbys, schrieb ein Kritiker, als „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ erschien und einen Haufen Aufsehen erregte. In England gab es sogar einen Prozess, in dem darüber (schließlich abschlägig beschieden) beraten wurde, ob „Letzte Ausfahrt ...“ wegen Obszönität auf den Index gehörte. Voller Blut, Hass und Gewalt sind die Geschichten in Selbys Debütroman – aber auch in den darauffolgenden Büchern, die Hubert Selby jr. in größeren Abständen veröffentlichte. Not, Elend und Ausweglosigkeit bestimmen auch die Geschichte, die Selby in „Willow Tree“ erzählt, seinem ersten Buch seit über zehn Jahren. Noch bevor das Buch in Deutschland bei Achilla Presse veröffentlicht wird, kommt Hubert Selby für eine Lesereise hierhin, die ihn auch nach Bremen führt. Begleiten wird ihn die Schauspielerin Barbara Nüsse, die für den deutschsprachigen Teil der Lesung zuständig ist. Wir sprachen aus diesem Anlass mit dem Autor.

taz: Ihre Bücher bieten zumeist keine Auflösungen an. Sie beschreiben einen Teil des Lebens von Menschen. Es gibt am Ende keine Hoffnung.

Hubert Selby: (lacht) Ja. Es geht alles weiter. Heute löst du ein Problem, und morgen gibt es ein Neues. So ist das Leben nun einmal.

Die Menschen in Ihren Büchern, auch in „Willow Tree“, scheinen aber prinzipiell nichts an ihrer Situation ändern zu können.

Es gibt Menschen, die in den Umständen ihres Lebens so gefangen sind, dass es keinen Ausweg zu geben scheint, es sei denn, eine Macht von außen hilft ihnen. Es scheint mir, dass die Mutter des Protagonisten Bobby einen ziemlich guten Job macht, wenn man ihre Lebensumstände bedenkt. Ihre vier Kids erschießen niemanden, sind nicht drogensüchtig, und sie hat die Familie zusammengehalten. Es ist sehr, sehr leicht, sie zu verurteilen. Besonders für religiöse Menschen. Aber mir scheint sie das Beste gemacht zu haben, mit dem, was sie hat. Sie liebt diese Kinder. Es scheint, da ist nicht viel mehr, was sie tun kann.

Impliziert das eine Kritik an den Verhältnissen, unter denen so ein Mensch existiert, die ja schließlich nicht naturgegeben sind?

Warum nicht. (lacht) Ich hätte nichts dagegen einzuwenden. Ja, ich hoffe, dass die Leute eher so reagieren, anstatt die Person zu verdammen. Aber leider haben solche Situationen immer existiert. Und ich bin sicher, sie werden immer existieren. Das heißt nicht, dass wir nicht versuchen sollten, sie zu korrigieren. Ich sage nur, dass es ein Teil der menschlichen Beschaffenheit zu sein scheint. Menschen sind gierig. Und manche Leute würden alles tun, um Geld zu machen. Es scheint, dass es immer so gewesen ist.

Welche Art von Wirkung beabsichtigen sie mit Ihren Büchern?

Mein primäres Ziel ist es, die beste Geschichte zu schreiben, die ich schreiben kann, und den Leser durch eine emotionale Erfahrung zu führen. Ich mag es nicht, Beobachter zu sein, wenn ich lese. Also versuche ich von der Innenseite nach außen zu schreiben. Ich will, dass der Leser das Leben dieser Leute erfährt.

Es sind ja nun aber nicht irgendwelche gewöhnlichen oder idealen Existenzen.

Was immer gewöhnlich sein soll, ich weiß das nicht. Aber was soll schon daran interessant sein, ein ideales Leben zu beschreiben. Es sind die Abweichungen davon, die interessant sind. Am idealen Leben ist nichts Interessantes für mich. Und schließlich: Wer etabliert die Normen für eine Gesellschaft?

Nun, es gibt einen Staat, der Gesetze verabschiedet.

Und wer sagt, dass die human sind? Dass die gerechtfertigt sind? Dass sie funktionieren? Ich habe eine Menge Dinge geglaubt, die aus irgendwelchen äußeren Quellen kamen, und schließlich habe ich innegehalten und mir gesagt: Hey, es gibt so viel Verrücktheit! Das macht keinen Sinn. Ich muss nach meinem eigenen moralischen Kodex leben. Das ist wichtig. Wenn ich meinen eigenen Kodex von Ethik und Integrität verletze, dann tut es mir weh. Ich kann die Regeln und Gesetze der Gesellschaft verletzen. Das tut mir nicht weh, es sei denn ich werde erwischt. Aber wenn ich mich selbst verletze, ist das sehr schmerzhaft, sehr schädlich. Und sehr oft leben die Leute, die diese Regeln für andere aufstellen, selbst nicht nach diesen Regeln. Manchmal ist es ein Rätsel.

Sie sprachen von Ihrem eigenen moralischen Kodex. Wie würden Sie den definieren?

Ich definiere Moral so, dass ich ein ehrliches Leben führen kann, in dem es eine Übereinstimmung gibt zwischen dem, was ich denke, was ich fühle und was ich sage. Wo es keinen Konflikt zwischen meinen Handlungen gibt und dem, was ich in meinem Herzen fühle.

Es war ja nicht zuletzt in dem Prozess um „Letzte Ausfahrt ...“ eine zentrale Frage, inwieweit dieses Buch unmoralisch sei.

Aller Wahrscheinlichkeit nach bezieht sich das darauf, dass das Buch kein Urteil fällt. Die Tatsache, dass der Autor des Buches nicht sagt: Das ist richtig und das ist falsch, das ist gut, das ist böse. Sondern er sagt: Es ist! Vielleicht ist es das, was Leute meinen. Ich glaube, dass das, was in dem Buch ist, ein Geschmack davon ist, wie es ist, ohne Liebe zu leben. Das ist die kürzeste und einfachste Definition, die ich von dem Buch geben kann: Die Schrecken einer Welt ohne Liebe. Und wenn du es schaffst, den Horror einer Welt ohne Liebe zu beschreiben, dann würde ich das moralisch nennen.

Fragen: Andreas Schnell

Hubert Selby und die Schauspielerin Barbara Nüsse, die die deutsche Fassung lesen wird, sind am Freitag ab 20 Uhr im Kulturzentrum Schlachthof zu Gast