Den Kindern verrutschen die Kopftücher

■ Schuh-MacGuffins am Rande der Autobahn: Mit viel Nähe zum Neorealismus schildert der iranische Filmemacher Majid Majidi in „Himmelskinder“ die Armenviertel von Teheran

Fast scheint es, als würden im Iran nur noch Kinderfilme produziert. Ein Grund dafür mag sein, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung minderjährig ist. Entscheidender aber ist die strenge Zensur im Lande der islamischen Revolution. Bei Kindern drücken die Zensoren schon mal ein Auge zu, wenn das Kopftuch nicht so perfekt sitzt. Vor allem aber scheint der Blick des Kindes per se unschuldig und erlaubt so zwar nur sanfte, aber in anderen Zusammenhängen nahezu unmögliche Kritik an den sozialen Missständen, die auch zwanzig Jahre nach dem Sturz des Schah noch unübersehbar sind.

So schlägt sich in „Der Läufer“ von Amir Naderi, der bereits 1985 gedreht wurde, aber erst kürzlich bei uns in die Kinos kam, ein obdachloser Waisenjunge mit Gelegenheitsjobs durch die Slums oder entwirft Abbas Kiarostami in „Wo ist das Haus meines Freundes?“ (1987) anhand der odysseehaften Suche seines kindlichen Helden nach der Adresse eines Schulkameraden ein gefährlich realistisches Bild der iranischen Gesellschaft.

Oder wie Majid Majidi sagt: „Kinder sind für mich ein Vehikel, der Welt der Erwachsenen näher zu kommen.“ Sein Film „Kinder des Himmels“ ist das bislang letzte Beispiel für diese iranische Tradition und hat Preise gewonnen beim Filmfestival in Montreal, beim Frankfurter Kinder- und Jugendfilmfestival und wurde für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert.

Auch Majidi bedient sich kindlicher Augen, wenn er auf die gesellschaftlichen Zustände blickt. Als der neunjährige Ali die Schuhe seiner kleinen Schwester Zahra verliert, ist das für die Kinder die denkbar größte Katastrophe. Die Familie ist arm, die Kinder besitzen jeweils nur ein einziges Paar Schuhe, der Vater ist streng. Also beschließen sie, sich die abgerissenen Turnschuhe von Ali zu teilen. Morgens geht Zahra mit ihnen zur Schule, danach rennt sie nach Hause, wo Ali bereits wartet, der nachmittags zur Schule muss.

Dieser Schuh-MacGuffin setzt nun eine Entwicklung in Gang, die zwischen Tragik und einem fast schon verzweifelten Humor hin und her schwankt. Auf der einen Seite wird der Direktor, der jeden Tag mit dem Rohrstock auf den stets zu spät kommenden Ali wartet, wie eine Karikatur dargestellt, andererseits ist die Bedrohung, die von ihm ausgeht, und seine Macht, Ali von der Schule zu werfen, sehr greifbar.

Die nicht zu leugnenden Vorbilder des Films sind die italienischen Neorealisten. Wenn sich Ali und sein Vater auf einem Fahrrad in den Stadtteil der Reichen aufmachen, um sich dort als Gärtner zu verdingen, erinnert die Szene bis in einzelne Einstellungen hinein an Sequenzen aus Vittorio De Sicas „Fahrraddiebe“. Was als eine Reise in die Hoffnung beginnt, endet in Frustration. Der ganze Film ist ein ständiges Auf und Ab zwischen diesen Extremen. Ein Eindruck, der dadurch verstärkt wird, dass Mejidi ausschließlich Laien verpflichtet hat, die nach Möglichkeit aus ähnlichen sozialen Verhältnissen stammten. Amir Farrokh Hashemian, der mit unglaublich traurigen Augen Ali spielt, fand der Regisseur auf einem Schulhof in einem der Armenviertel Teherans.

Aber es gibt eine Menge Hauptdarsteller in „Himmelskinder“: Da ist die Stadt Teheran mit ihren Diskrepanzen zwischen Luxus und Armut, Moderne und Vergangenheit, großstädtischem und dörflichem Charakter. Eine der beeindruckendsten Einstellungen gehört Ali und seinem Vater, wenn sie sich ameisengleich auf ihrem Fahrrad die Autobahn entlangquälen.

Vor allem sieht Majidi den Handlungen zu. Ob beim Brotbacken oder beim Schuhereparieren, die Kamera verweilt minutenlang auf Alltäglichkeiten. Teilweise findet Majidi fast schon zu poetische Bilder für die Armut. An den zerschundenen Füßen von Ali lässt Majidi einen Goldfisch schnuppern. Wenn die Kinder die doppelt genutzten Turnschuhe waschen, füllt sich der ärmliche Hinterhof mit Seifenblasen. Die Realität aber sieht anders aus. „Du bist kein Kind mehr“, sagt der Vater zu Ali, „du bist neun Jahre alt.“ Sicherlich ist „Himmelskinder“ ein Kinderfilm, aber vielleicht eher ein Film über Kinder als für Kinder. Thomas Winkler

„Himmelskinder“, Buch und Regie: Majid Majidi, mit Amir Farrokh Hashemian, Bahare Sediqi, Amir Naji, Fereshte Sarabandi, Iran 1997, 90 Min.