Heirat und Hysterie

„Trau Dich!“ Das Fernsehen ruft einen Hochzeitstag aus   ■  Von Georg Seeßlen

Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Staat, Gesellschaft und Familie sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Was so gemeinhein Ordnung stiftet in einem Menschenleben schaut um so seltsamer zurück, je genauer man es ansieht.

Aber dafür haben wir ja Fernsehen. Eine Mediengesellschaft hat da nämlich einen Trick in der Hinterhand: Je mehr ein Aspekt von Mikro- oder Makrostruktur der Gesellschaft ihren historischen und logischen Sinn verliert, desto hysterischer wird es als öffentliches Ritual wiederholt. Die Nation, die freie Marktwirtschaft, soziale Gerechtigkeit. Oder eben die Liebe und wie man sie repräsentiert. Mit den Medien, den Maschinen und einer Krise der Liebe begann das bürgerliche Zeitalter. Und genau so endet es auch.

Die formelle Hochzeit war etwa seit den siebziger Jahren allgemein anerkannt als etwas höchst Kostspieliges, Spießiges und Verlogenes, was umso sicherer mit einer Reihe von Katastrophen endete, je aufwendiger man die ganze Sache gestaltete. Nicht dass der Mainstream etwa aufhörte mit der Feier dieses schönsten Tages im Lebens, nicht dass es keine sündteuren weißen Kleider, Hochzeitskutschen, hupende Autokolonnen, Brautsträuße, Geheule zur rechten Zeit, Glocken in der idyllischen kleinen Kirche und so weiter mehr gegeben hatte. Nur so rein kulturell war uns die Sache ein bisschen peinlich, weil allzu deutlich war, dass unsere Hochzeitssitten nichts mehr bedeuteten. Diese ganzen Riten von Jungfräulichkeit, patriarchalem Machtwechsel und öffentlichem Beistand für einen umso radikaleren Rückzug ins Private, dieses zeichenhafte Gleichen von Sexualität und Geld, wirkten gemeinhin als eine böse Satire auf das, was als wirkliches Leben dann folgte. Die Ethnologie nennt das „die Verschiebung von der Bedeutung zum Gebrauch“: Rituale und Mythen sind so verankert in der gemeinschaftlichen Praxis einer Kultur, dass niemand mehr nach deren Sinn fragen muss. Früher oder später wird die Frage nach dem Sinn sogar verboten. Was unser Heiraten nach alter Väter Sitte anbelangt, musste jede Frage nach dem Sinn zumindest störend und obszön wirken.

Große Hochzeiten waren also im dritten Viertel unseres Jahrhunderts eine Trotzdem-Angelegenheit. Sie passten nicht zu Ikea, sondern zum Landhausstil. Sie waren nicht nur das Versprechen, eine Ehe in „alter Form“ zu führen, sondern auch eine alte Kultur zurückzuwünschen. Das heißt auch: Heiraten war eine ziemlich politische Angelegenheit.

In den achtziger Jahren indes hatte diese heiratende Klasse sich auch architektonisch in den Schlafdörfern modisch und semantisch wieder durchgesetzt. Nicht zuletzt bekam sie auch ihr Fernsehprogramm. Volksmusik und „Verstehen Sie Spaß?“ als eine der medialen Bestätigungen für den am Hochzeitstag begonnenen Wahn, alle Aspekte dieses glücklichen Lebens elektronisch aufzuzeichnen, die kleinen Freuden und Pannen mit den Kindern einerseits, die Schlafzimmergeheimnisse andrerseits. Für wen auch immer. Und dann brachte das Fernsehen den „Flitterabend“ mit Michael Schanze, der die Medialisierung des großen Ereignisses umdrehte. Statt dass jeder zweite Hochzeitsgast unentwegt mit seiner Videokamera herumfuchtelt, wurde die Sache nun gleich zum Fernsehereignis, und zu gewinnen gab es dabei auch noch etwas.

Das Unbehagen an der Leere oder gar Widersinnigkeit des Rituals also wurde zunächst durch seine Medialisierung bekämpft oder, um es anders zu sagen, durch die radikale Verlagerung des Interesses vom Inhalt auf die Form. Die Bedeutung einer Hochzeit liegt nun darin, einerseits das größte Schauspiel zu bieten. Und andrerseits in der Verknüpfung mit anderen Bedeutungen. Man heiratet im Heißluftballon, unter Wasser, auf dem Mount Everest oder in der Halfpipe. Oder eben an einem bestimmten, irgend etwas verheißenden oder nur auffälligen Datum.

Womit wir beim 9. 9. 1999 wären. Ein Datum, das als seltsamer Attraktor für „normale“ Paare dient. 36 Aufgebote sind allein beim Augsburger Standesamt angemeldet, mehr ging nicht, und schon seit einem halben Jahr waren die Termine vergeben. Da konnte es nicht ausbleiben, dass die Kleinbürgerverstärkungsmaschine Fernsehen sich der Sache annahm. Und nur einer kam beim ZDF dafür in Frage, eben jener Michael Schanze, der die Kunst beherrscht, zu grinsen wie eine Mensch gewordene Hochzeitstorte nach dem Anschnitt.

„Trau Dich“ heißt seine „große Hochzeitsshow“ an einem Tag, den das Fernsehen erbarmungslos zum Hochzeitstag erklärt hat. Den ganzen Tag, beginnend um 9.03 Uhr („Volle Kanne, Susanne“) begleiten wir Heiratswillige, sehen Hochzeitsmelodramen, bekommen Probleme vor Gericht erläutert, wie man es bei der Hochzeit treibt und wo es zu weit geht, zum Beispiel bei der Brautentführung. Das muss man einerseits wissen, andrerseits erinnert uns dieser Fernsehtag daran, dass der schönste Tag im Leben kommender Eigenheimbesitzer nicht nur stressreich ist, sondern eine Portion Paranoia benötigt und produziert.

Richtig gut ist Sat.1 in der Umgestaltung unseres mythischen Untergrundes; da kann man nämlich den ganzen Tag Talkshows mit solchen Themen hören: „Gerade verheiratet, schon kracht's“ (Jörg Pilawa), „Meine Hochzeit war die schlimmste“ (Sonja), „Ich heirate dich nur, wenn ...“ (Ricky). Und dann kann „Herzblatt“-Christian Clerici in seiner Schau „voller Glücksmomente“ am Abend nur noch kategorisch fordern: „Heirate mich“. Wenn wir den Katzenjammer schon vor dem großen Ereignis serviert bekommen, müssen wir natürlich taff genug sein, bei so etwas auch noch auf ein verlegenes „bitte“ zu verzichten. „Heirate mich“ sagt ganz ehrlich, dass da irgend woher Zwang im Spiel ist. Aber woher? „Trau Dich“, nicht weniger kategorisch, ist da als Titel für eine Hochzeitsshow raffinierter. Die Sache erfordert Mut, ja Tollkühnheit. Am Ende aber richtet das Fernsehen den Glücklichen eine „Hochzeit der Superlative“ aus.

So ist es, unser Fernsehen: Grauen und Glamour feinsinnig dramatisiert, in einem Programm, das den Trotzdem-Aspekt ins Absurde steigert. Das ist, wie wenn ein Boxer zuerst verprügelt wird und dann in den Ring steigt. Oder wie wenn wir zuerst Gerhard Schröder wählen und dann soziale Gerechtigkeit verlangen.

Das Datum freilich darf auch im Leben jenseits des Fernsehens nicht allein als Beschwörung des magischen Glücks erscheinen. Firmen verteilen großherzig Geschenke an Paare, die sich heute trauen lassen, so bekommt auch da jeder, was er verdient: die einen eine Kaffeemaschine, die anderen günstige Reklame.

Das ist eine, übrigens sehr deutsche, Variante der Hoffnungen auf eine Geburt zu Silvester 2000. Ordentlich nach dem Kalender zu ficken, das passt sowieso zu uns. Vielleicht kommt man damit ja auch ins Fernsehen oder bekommt ein Jahreswindelabonnement. Wenn nicht, hat man jedenfalls etwas zu erzählen. Zum Beispiel auf der nächsten Hochzeitsfeier.