Das Sagen hat die Siemens AG

taz-Serie „Jeden Tag ein guter Grund für den Atomausstieg“: Der Kraftwerkhersteller Siemens treibt den Bau von Atomkraftwerken in Osteuropa voran  ■   Von Henrik Paulitz

Würde sich eine Herstellerfirma jemals über die Subventionierung der von ihr hergestellten Produkte beklagen? Nein? Siemens würde nicht nur, der Münchner Kraftwerkhersteller tut es bereits. In der August-Ausgabe der Unternehmenszeitschrift Standpunkt wettert er gegen die „Zwangssubventionierung“ für erneuerbare Energien durch das Stromeinspeisegesetz. Der nach eigenen Angaben weltweit führende Produzent von Solarzellen, der auch Komponenten für Wasserkraftwerke, Windkraftanlagen und Biomasse-Kraftwerke herstellt, möchte sein Geld viel lieber mit dem Bau von (ebenfalls subventionierten) Atomkraftwerken und fossilen Großkraftwerken verdienen. Geeignete Abnehmer für Solarzellen sehen die Konzernstrategen in den Herstellern von Parkscheinautomaten sowie in noch nicht mit Stromnetzen erschlossenen Regionen der Dritten Welt.

Siemens/KWU hat alle 19 laufenden Atomkraftwerke in Deutschland gebaut und wehrt sich gemeinsam mit den Atomkraftwerksbetreibern vehement gegen den Atomausstieg. Das Unternehmen wartet die Anlagen regelmäßig, rüstet sie nach und versorgt sie mit Brennelementen – ein Milliardengeschäft.

Weil sich in Deutschland neue Atomkraftwerke derzeit politisch nicht durchsetzen lassen, haben sich Siemens, die Energieversorger und die Großbanken darauf verständigt, Atomkraftwerke im Zuge der Energiemarktliberalisierung künftig im benachbarten Ausland zu bauen und den Atomstrom nach Deutschland zu importieren. Die Regierung Kohl besorgte der Siemens AG 1996 die Finanzierung für die Fertigstellung des Atomkraftwerks Mochovce in der Slowakei.

Die rot-grüne Regierung wird vermutlich in wenigen Wochen ihre Finanzzusage für die Fertigstellung der ukrainischen Atomkraftwerksblöcke Kmelnitzki-2 und Rowno-4 durch Siemens geben.

Wie Greenpeace kürzlich anhand eines Schreibens des ukrainischen Präsidenten Kutschma an die großen Industriestaaten (G7) belegte, wollte die Ukraine 1995 Gaskraftwerke als Ersatz für den Tschernobyl-Reaktor bauen. Die Regierung war dann allerdings gezwungen worden, sich auf Atomanlagen umzuorientieren. Dahinter standen insbesondere die „Bundesrepublik Deutschland und Frankreich“, wie aus einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 30. März 1999 an die Internationale Vereinigung Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) hervorgeht. Ihr besonderes Engagement erklärt sich aus dem Interesse der Reaktorbauer Siemens und Framatome.

Kürzlich nutzte Bundeskanzler Schröder eine Reise nach Kiew dazu, der atomkritischen Öffentlichkeit und seiner eigenen Bundestagsfraktion zu demonstrieren, dass die Ukraine heute auf dem Atomkraftwerksbau beharrt, um an die ersehnten EU-Gelder zu kommen. Dabei wäre das eigentlich kein Grund für die Bundesregierung, hochgefährliche Atommeiler, die seit über 13 Jahren vor sich hinrosten, finanziell zu unterstützen. Doch Schröder will sich nicht mit dem mächtigen Atomkonzern Siemens anlegen – und die Grünen nicht mit Schröder.

Doch nur 13 Prozent der Bevölkerung in Deutschland wollen auch nach den „Verhandlungen“ in Kiew, dass der Westen neue Atomkraftwerke in der Ukraine als Ersatz für Tschernobyl finanziert. 79 Prozent plädieren nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag der IPPNW für nichtatomare Alternativen. 75 Prozent lehnen es generell ab, dass Siemens in Osteuropa Atomkraftwerke baut, aus denen dann Atomstrom unter anderem nach Deutschland geliefert wird.

Doch Siemens hat sich schon immer nur auf die Position der Bundesregierung berufen, und ein rot-grüner Atomkredit wird die entscheidende Motivation dafür sein, zahllose weitere Atomprojekte im Osten forciert voranzutreiben. Wie in der Ukraine möchte Siemens auch in Russland zwei Atomkraftwerksblöcke des Typs WWER-1000 fertig stellen: Rostow-1 und Kalinin-3. Für den Bau des Prototyp-Reaktors WWER-640, den Siemens gemeinsam mit der russischen Atomwirtschaft entwickelt hat und in der Nähe von Sankt Petersburg errichten möchte, fehlt nur noch das nötige Kleingeld aus den westlichen Staatshaushalten.

Das ambitionierteste Projekt der deutschen Atomschmiede ist der geplante Bau eines „Europäischen Druckwasser-Reaktors (EPR)“ mit einer Leistung von 1.750 Megawatt am westrussischen Standort Smolensk. Der superteure Großreaktor soll durch Stromlieferungen nach Deutschland finanziert werden, wie Siemens-Pressesprecher Wolfgang Breyer bestätigte: „Ich kann mir vorstellen, dass Russland, wenn es dann zum Bau eines EPR in Russland kommen sollte, Stromlieferungen in den Westen erbringen möchte, um seinen Anteil an der Investition zu bezahlen.“

Ausgerechnet vom möglichen EPR-Standort Smolensk aus hat Siemens bereits den Bau einer Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) über Warschau bis Berlin und Kassel ins Auge gefasst. Mit der geplanten Übertragungsleistung von 4.000 Megawatt ließe sich dann neben dem EPR-Strom auch noch Strom aus den in Smolensk betriebenen vier Reaktoren vom Tschernobyl-Typ nach Deutschland importieren. Vom litauischen Tschernobyl-Reaktor Ignalina baut Siemens bereits eine Stromtrasse.

Mit seinen Atomgeschäften in Osteuropa stützt Siemens maßgeblich die dortige Atomlobby. Nach Einschätzung der russischen Anti-Atom-Organisation Ecodefense! wäre die russische Atomwirtschaft längst am Ende, wenn der Konzern nicht immer wieder Westgelder für die gemeinsamen Atomprojekte organisieren würde. Umgekehrt aber heißt das: Wenn wir Siemens durch einen Verbraucherboykott vom Atomgeschäft abbringen, wird auch der Atomausstieg in Osteuropa greifbar.

Henrik Paulitz organisiert für die IPPNW den Siemens-Boykott