Wie war, wie ist der Deutsche?

Unangenehme Wahrheiten eines faszinierenden Buches über das Deutschland am Ende des Dritten Reichs versetzen Aachen, im Oktober 1944 erste befreite Stadt, heute in heftige Unruhe – „Alles Propaganda“  ■   Aus Aachen Bernd Müllender

Stickig warm ist es in der Buchhandlung und proppevoll. Vorgestellt wird ein neues Geschichtsbuch. Die Diskutanten können kaum ihre Eröffnungsstatements vorbringen. „Alles Unfug!“ Zuhörer rutschen nervös auf Stühlen herum. „Stimmt nicht!“ Die Stimmung ist aggressiv. Das Buch heisst „Lügendetektor“, Untertitel: „Vernehmungen im besiegten Deutschland“ (siehe taz vom 7. 8. 99). Es erschien 1946 erstmals in den USA, wurde erst jetzt von Hans Magnus Enzensberger entdeckt und liest sich wie eine Mischung aus authentischem Krimi und historischer Reportage.

Verfasst hat es Saul K. Padover, US-amerikanischer Offizier, der 1944 den alliierten Truppen als eine Art Mentalitätsforscher folgte und sich ein Bild machen sollte, was die Deutschen für welche sind: Täter, Mittäter, Verführte, Unbelehrbare? Und was mit ihnen tun? Wie mit welchen Deutschen zusammen eine erste Zivilverwaltung aufbauen?

Padover, Jude österreichischer Herkunft, führte Interviews querbeet: mit Arbeitern, Pfarrern, Lehrerinnen, Nazibonzen, Industriellen, Jugendlichen, Bauern, Sekretärinnen, zufälligen Passanten. „Für mich war jeder Deutsche ein Mikrokosmos, den es zu studieren galt“, schreibt er, „viele haben seit Jahren auf eine Gelegenheit gewartet, offen sprechen zu können.“ Die Deutschen redeten spontan, authentisch, unverfälscht, ungefiltert. Und deshalb so aussagekräftig. Zuerst stieß Deutschland-Ethnologe Padover auf Aachen, das nach erbitterten Kämpfen schon im Oktober 1944 befreit wurde. „Padover sah die Deutschen“, sagte ein Historiker bei der Buchpräsentation, „als seine Patienten.“ Und die waren offenbar krank durch und durch.

Fast alle hatten von den millionenfachen KZ-Gräueln gehört. Aber sie spielten es herunter. Redeten sich heraus und schämten sich kaum. Schleimten sich bei den neuen Herren ein, und sei es bizarrerweise aus alter Gewohnheit mit dem Hitlergruß. Erstaunt war Padover, mit welcher Dreistigkeit manche Wehrmachtler ihr eigenes Land leerplünderten und in welcher Zahl sich die deutschen Frauleins den ersten GIs hingaben, gern ohne Geld, anbiedernd, wie selbstverständlich. Padover erlebte Rechtfertigungen, Ausreden, Verdrehungen, endlos grotesken Unfug und lernte staunend volkstypische Sprichwörter vom „Mitgefangen, mitgehangen“ und „Mit den Wölfen heulen“. Sein Urteil über das deutsche Volk fiel niederschmetternd aus: autoritätsgläubig, stumpf, gefühllos, gewissenlos, selbstherrlich und arrogant auch in der Kapitulation, weinerlich in kollektivem Selbstmitleid.

Demokratie mit denen? In Aachens erster Verwaltung hatte sich, während der Krieg woanders noch tobte, bald eine obskure neue Machtelite aus alten Naziseilschaften gefunden. Nur wer alten Stallgeruch, besser noch das braune Parteibuch hatte, bekam eine Lizenz für ein Geschäft. Und ganz oben zog ein bigotter Bischof die Strippen, der im Interview mit Padover das Dritte Reich schönredete, die Kirche zum Hort des Widerstandes hochstilisierte und entlarvend immer noch vom „Volk ohne Raum“ schwadronierte, weshalb nach Osten habe „expandiert werden müssen“.

Padovers Fazit: „Die Deutschen haben kein moralisches Empfinden. Ihre Unterwürfigkeit war ekelhaft.“ Das Schlimmste: „Die Gleichgültigkeit.“

„Leichenfledderei“ sei das, murrt es laut aus dem giftigen, gar nicht gleichgültigen Publikum von heute. „Alles Lüge.“ Und: „Fälschung.“ Ein empörter Diskutant nannte die Veröffentlichung gar „Verletzung des Beichtgeheimnisses“, als seien die deutschen Kriegsverbrecher nur ein Volk von Sünderlein gewesen. Ach, alles sei ganz anders gewesen: Die besiegten Aachener hätten doch „unter Schock gestanden“, ohne Schuldbewusstsein, verführt halt; aber es sei heute ja „so modern, auf die Deutschen einzudreschen“. Warum das Werk überhaupt noch erscheine? Alles Propaganda!

Alte Leute („Wir haben es doch erlebt“) wollten ihre subjektiven Erinnerungen zur Wahrheit umbiegen und waren gar nicht mehr zu beruhigen. „Warum“, fragte eine Zuhörerin schließlich, „reagieren wir Deutsche so furchtbar empfindlich, wenn wir mal kritisiert und charakterisiert werden?“ Sie bekam prasselnden Beifall, aber keine Antworten. Warum bloß der Oberbürgermeister nicht eingreife, wollte einer wissen, wenn die Stadt so besudelt würde. „Da müsste die Stadtverwaltung mal ein klärendes Wort sprechen.“

Der Ruf nach den Autoritäten. Deutschland 1944 – 1999. Schon Padover war aufgefallen: „Es machte ihnen nichts aus, Menschen zu verbrennen, aber Dokumente wurden niemals verbrannt. Diese Deutschen waren derart autoritätshörig und dokumentengläubig, dass sie sich erst beruhigten, wenn wir ihre Ausweise angeschaut hatten. Sie hielten uns ihre Papiere unter die Nase, um zu beweisen, dass alles in Ordnung sei. Es war das Verhalten von Sklaven, die Bürokraten anbeteten.“