Ein Rosenaufstand

„Hamlet“ und verweigerter Applaus: die „Lilia Abadjieva Company“ beim Sommertheater  ■ Von Ralf Poerschke

Dieses Schild ist natürlich erst mal eine tolldreiste Behauptung: „Hamlet“ steht darauf, und was wir sehen, sind zunächst fünf Männer in altmodisch gereiften Kleidern, die zu irgendwie 80er-mäßig daherkommendem treibenden Instrumental-Rock ihr tänzerisches Unvermögen unter Beweis stellen oder wie Enten über die Bühne watscheln. Nach diesem kuriosen Auftakt ist es freilich eine nicht geringe Überraschung, dass die bulgarische Lilia Abadjieva Company beim Sommertheater-Festival auf Kampnagel in deutscher Erstaufführung tatsächlich einen Hamlet gibt, der – simultanübersetzt – dem Handlungsgerüst Shakespeares ziemlich korrekt folgt und die Geschichte des seinen Vater rächenden, verrückt spielenden Dänenprinzen insgesamt fast brav nacherzählt. Denn Lilia Abadjievas 80-minütige Inszenierung war angekündigt worden als respektloser, persiflierender Kommentar zu dem eben gar nicht so eindeutigen Drama.

Was die 1966 in Sofia geborene Regisseurin stattdessen will, kristallisiert sich trotzdem schnell heraus: sich mit Shakespeare nicht arg viel auseinandersetzen und dafür umso mehr überkommene Theaterpraxis zerfleddern, auf die Schippe nehmen und in alle vier Winde zerstreuen. Daran gemessen, mit wieviel Genuß Abadjieva ihr durchweg männliches Ensemble eine gestelzte (Pathos-)Geste nach der anderen vergackeiern läßt, muß es auf Bulgariens Traditionsbühnen ausgesprochen scheußlich zugehen. Dabei zuzuschauen bereitet allerdings nur einen Bruchteil des Mordsspaßes, der einem bulgarischen Publikum unterstellt werden darf, ist doch derlei schrilles Abarbeiten von Theater-Grundsätzlichem hierzulande längst nicht mehr up to date, geschweige denn state of the art. Und prompt tappt der Kritiker in die west-östliche Vergleichsfalle, wenn er nun nämlich etwa auf Peter Zadeks Hamlet-Inszenierung zu sprechen käme.

Also nehmen wir doch einfach an, daß Lilia Abadjieva an ihrem Standort genau das Richtige tut, und sehen darüber hinweg, dass (fast) nackte Körper auf Kampnagel eher eine Peinlichkeit denn ein Provokation darstellen und in einer Ballett-Parodie lediglich sehr schalen Witz versprühen. Und also konstatieren wir beispielsweise lieber, mit welch stupender Leichtigkeit sie einem abgestandenen Allgemeinplatz wie „Sein oder Nichtsein, das ist die Frage“ noch bewegungstheatralische Kraft und Rhythmik zu entlocken imstande ist.

Abadjievas Können zeigt sich ohnehin desto deutlicher, je mehr sie von Ur-Text und Ur-Handlung abstrahiert: wenn während einer absurden Schulstunde eine gestrenge Lehrerin ihre Schüler fragt, was Hamlet eigentlich von den traditionellen Rächern unterscheidet, oder wenn am Schluß beim Geschirrabtrocknen lapidar das Ende – „alle sterben“ – sich erzählt wird oder wenn ganz am Schluss sich traurige Gestalten gegenseitig Plüschtiere in den Arm stopfen.

Und ganz ganz am Schluss, wenn alles so aussieht, als sei die waghalsige Hamlet-Behauptung an diesem Abend halb widerlegt, halb sanktioniert worden, dreht Lilia Abadijeva noch einmal auf und den Spieß um, und zwar gegen die bereits applaudierenden Zuschauer und via eigenes Erscheinen – aber wie. Die rigideste Konvention des Theaters ist ja bekanntlich, daß sich letztlich alle Schauspieler verbeugen, beklatscht werden oder ausgebuht und bei Premieren auch der Regisseur. Hier aber erstickt ostentativ laute Musik den deswegen sehr zaghaften Applaus, Darsteller und Regisseurin – divenhaft mit weißgerandeter Sonnenbrille – proben den Aufstand auch gegen die Geste des Verbeugens, der Beifall perlt an ihnen ab, und nicht einmal die auf diesem Festival obligatorischen Rosen nehmen sie in Empfang, was die dafür zuständigen Kampnagel-Kräfte einigermaßen hilflos dreinschauen läßt. Hinterlistig betrügt Lilia Abadjieva das Publikum um das ihm von altersher zustehende Recht auf Dankes- respektive Unmutsbekundung: die stärkste, die klügste Geste von allen, vielleicht eine Art Rachegeste. Danke dafür!

noch heute, 20.30 Uhr, k2