Die Muse für die Hirnschwitzer

■ Der Bremer Manfred Kirschner will den Kunstkonsumenten und -theoretiker mittels 100 Topflappen in einen unendlichen Diskurs verstricken – und verheddern, und zwar heute abend in der Galerie im Güterbahnhof

Einst ließ Manfred Kirschner (Baujahr 1967) die Fliegen eines Kuhstalls ein paar Tage lang auf einen Streifen Zelluloid pissen und bewies damit aufs Neue: Auch verfemte Dinge wie die Exkrementevon Kleinstlebewesen eignen sich hervorragend zur Verfertigung anmutig-abstrakter (in diesem Fall pointillistischer) Kunstfilme. Später pinselte Kirschner kleine seltsame Handlungssequenzen (etwa über die Badegepflogenheiten von Fallschirmspringern), die nur auf einem anderen, fröhlicheren Planeten denkbar sind, mit Lebensmittelfarben auf essbares Papier im Postkartenformat: Hallo, Ihr Lieben daheim. Das ganze wurde in Frischhaltefolie verschweißt und mit einem Haltbarkeitsdatum versehen. Der teleologische Endpunkt der kleinen Gemälde sollte also nicht das Guggenheim Museum sein, sondern der Magen-Darm-Trakt ihrer Käufer. Kein so beneidenswertes Schicksal.

Kurze Zeit später hielt Manfred Kirschner klassische Dia-Vortragsabende ab. Dort referierte er leider nicht über die Löwen der Serengenti, sondern lediglich über das launige Leben eines Herren, für den sich kein Mensch interessiert, so dass es zum Glück nichts ausmachte, wenn es ihn nicht gab, nicht wirklich. Immer wieder entdeckt Kirschner in den immer kleiner werden Lücken zwischen den diversen Ismen irgendetwas, das neu ist oder neu überdacht werden müsste. Zuletzt war es das Spitzendeckchen. Seine früheren Arbeiten waren bereits an renommierten Orten wie der Kunsthalle Bremerhaven und der wunderbaren Städtischen Galerie Delmenhorst zu sehen. Das Spitzendeckchen taucht nun erstmals in der Galerie im Güterbahnhof auf.

Ist es Zufall, dass es kürzlich auch in „buten & binnen“ eine prominente Rolle spielte? Dort beschäftigte sich ein Beitrag mit des hartmütigen Herrn Perschaus Attacke gegen das selbstgezimmerte Naturdorf von 30 supernetten Menschen bei Lesum. Der Finanzsenator maßte sich doch tatsächlich das Recht zu, diese Lebensform auszuradieren. Ighitt. „buten & binnen“ bescheinigte ihm deshalb eine Spitzendeckchen-Mentalität. Denn schon lange ist das Spitzendeckchen Metapher für alles Böse in dieser Welt: Pedanterie, Veknöchertheit, Staubwischen. Zu Recht? Grund genug für Kirschner, es einer eingehenden, liebevollen Untersuchung zu unterziehen. Weil er weder klöppeln noch häkeln kann (so mutmaßen wir), vielleicht auch aus ästhetischen Gründen (Transzendentalisierung und so) malte er 100 Stück davon auf Papier: teils einfarbig, teils gestreift wie eine Schießscheibe, mal locker, mal eng gearbeitet. (Übrigens: Von Stäbchen hat der Mann keine Ahnung, nur Luftmaschen kennt er.) Sie heißen „Kunsttheorieuntersetzer“. Untersetzer sind gemeinhin dazu da, Schaden abzuhalten; zum Beispiel, wenn etwas nässt oder zu heiß ist. Sie sind es, die es dann ausbaden und ausschwitzen müssen. Das entspricht vollkommen unseren Erfahrungen mit Kunsttheorie: Sie sabbert und kokelt hemmungslos vor sich hin auf Kosten der Kunst.

Doch Manfred Kirschner ist sonnigen Gemüts. Er mag die Theorie und betrachtet sich und die Kunst als deren Zulieferer, Stichwortgeber, Muse, Inspirator: Sei meine Tasse, mein Blumentopf, mein Kochtopf. Und was versinnbildlicht uns Kirschners Häkelkunst? Zum Beispiel, dass es im Leben zugeht wie beim Autofahren: Ein winzigkleiner Moment der Unachtsamkeit, eine einzige fallengelassene Masche, und alles löst sich auf in unentwirrbares Chaos. Und wieder Mal tänzelt Kirschner mühelos auf dem schmalen Grad zwischen Ironie, Heiterkeit und Ernst.

Allerdings darf man sich an den hundert kleinen bunten Sonnen an der Wand auch einfach ergötzen, nur so. Neben ihrem Hauptjob als Denkanstoßer, fungieren sie auch als „Mandalas“. So beruhigend es gewesen sein muss sie anzufertigen, so beruhigend ist es, in ihr luftiges Pink, Hellblau, Hellgrün hineinzustieren.

Auf der Vernissage wird auch noch ein Film in einem Puppenhausfernseher aus Pappe zu sehen sein, den Kirschner zusammen mit Mark Haverkort erstellte. Letzterer stammt aus Rotterdamm, fotografiert und filmt am liebsten sich selbst, hat gerade für ein paar Monate das brandneu eingerichtete Gastatelier des Güterbahnhofs bezogen, genießt den Wahnsinnsblick über das unendliche graue Dächermeer der Bahnhofshalle und die unendlichen Kommunikationsmöglichkeiten in dieser wohl größten Ateliergemeinschaft südlich des Nordpols (oder war es nördlich?). Zeitgleich zu Kirschners Vernissage werden Menschen mit einer ungeklärten Einstellung zum Western-Faible ihrer Kindheitstage eine „Exhibition-Party“ werfen. Männliche Geschlechtsteile werden dabei aller Vorraussicht nach nur auf Bildern in einem Tunnel zu sehen sein. Aber wenn man bedenkt, dass im rege herbeigehechelten neusten Kubrick-Erotik-Film nicht mal daaas geboten wird, dann vermuten wir mal: Dieser Abend wird echt oscarpreiswürdig.

bk

Heute, 20 h, Vernissagen von M. Kirschner, Quicki Free Texas und Boopy Goldboy in der Galerie Herold im Güterbahnhof hinterm Überseemuseum. 12.9., 13 h: Führung durch den Künstler himself.