Rätselhaft vollständig

■ Gastspiel von Robert Lepage und Ex Machina mit „The Seven Streams Of The River Ota“ auf Kampnagel

Der Versuch, nacherzählen zu wollen, was Robert Lepage in fünf Dreiviertelstunden Theater an Geschichte und Beobachtungen ausbreitet, wäre auch in der zehnfachen Länge dieses Artikels ein Schildbürgerstreich. Denn Lepages Kunst der magischen Montage besteht eben nicht vordringlich darin, sich auf eine exposé-taugliche Struktur zu beziehen, aus der heraus eine spannende Geschichte erzählt wird, mit Anfang, Höhepunkt und Ende. Der kanadische Regisseur und seine Gruppe Ex Machina, die für sechs Aufführungen ihres noch unvollständigen Monumentalwerkes The Seven Streams Of The River Ota auf Kampnagel zu Gast sind, entern das Bewußtsein des Betrachters durch „Unnötiges“.

Randszenen voller winziger Gesten, die Gefühle explodieren lassen und damit die Erinnerung an all die falsche, pathetische Gartenarbeit im staatsklösterlichen Theater durch Heben der Kutten verjagen, sinnliche Bilder, die den Geist beim Schweifen in Gefangenschaft halten, und ein liebevoller Respekt vor der Würde des Alltags geben dem Stück seine unentschlüsselbare Wahrhaftigkeit.

Das Flechten verschiedenster Biografien in den Lebensweg der tschechischen Jüdin Jana Capek ergibt bei aller Logik nie einen Erzählzopf, weil Lepage zwar die Daseinspfade als Fährten auslegt, sie aber für den Reichtum des prallen Lebens sofort wieder verläßt. Die Beschreibung des absurden Miteinanders voller Selbstinszenierung und tragischer Grotesken in einer abgetakelten Pension für Drop-Outs in New York ist um ihrer selbst willen spannend und nicht, weil darin die Entwicklung einer Geschichte schläft. Auch die anderen Schauplätze (Hiroshima, Theresienstadt, Amsterdam, Quebec) scheinen nicht um einer politischen Benachrichtigung willen gewählt (wofür viele Details – insbesondere bei der Darstellung des Nationalsozialismus – auch zu hart am Rande der Verniedlichung und des Irrtums schweben), sondern um Menschen zu zeigen, deren Würde trotz historischer Orte nicht künstlich vergrößert werden muß.

Lepages Figuren sind auf eine rätselhafte Art vollständig, selbst wenn sie nur in kurzen Szenen auftreten. Den Dialogen an den Nebentischen eines Cafés, aufgenommen von einem Arzt mit Stetoskop, widmet er die gleiche Konzentration wie der Unterhaltung der Hauptpersonen dieses Moments.

Leitmotive von Werden und Sterben bilden den Subtext der Inszenierung. Mal verkleidet in wiederkehrende, vielschichtige Symbole wie Spiegel, Fotos, Schatten und Puppen, dann wieder in einem Realismus entblößt, der bei der Szene eines Selbstmordes unter ärztlicher Aufsicht den Saal zur Totenstille zwingt.

Trotzdem bleibt Platz für Boulevardtheater, unkitschig in Szene gesetzte Kulturzitate, filmisches Breitwandpanorama und die Verteidigung der Zärtlichkeit. Dieses Welttheater in fünf Stunden sollte niemanden schrecken, der noch ein ganzes Leben vor sich hat.

Till Briegleb