Lebenslang.

Heinrich P. hat vier Frauen ermordet und wurde dafür zu lebenslanger Haft verurteilt. Das geschah vor vierzig Jahren. Für das Bundesverfassungsgericht ist P.s Schuld gesühnt. Ein Ende seiner Haft ist trotzdem nicht in Sicht Von Ulrike Winkelmann

Der Häftling

Wenn er herauskommt, will er Prediger werden. Als Barfüßer durchs Land ziehen und die Bergpredigt verbreiten. Und zwischendurch in einem Kloster oder in einer Bruderschaft leben. Heinrich P. ist nicht bloß fromm. Er ist „ultraorthodox“, wie er sagt, aber er lacht dabei. Er würde niemanden bedrängen, „das hat Jesus auch nicht gemacht“. Die Menschen kämen schon von selbst, wie bei Jesus.

Ob er je herauskommt, ist unklar. Heinrich P. ist seit vierzig Jahren Strafgefangener. Wahrscheinlich sitzt niemand in der Bundesrepublik länger als er im Gefängnis. Genaue Angaben sind darüber nicht zu bekommen, weil die Justiz zwar ihre Häftlinge zählt, deren Jahre aber nicht. P. sitzt im baden-württembergischen Bruchsal, nicht in der größten, aber der sichersten Anstalt des Landes – „für besonders gefährliche Täter“, wie die Auskunft des Justizministeriums lautet. Fast 100 von den 450 Insassen sind in Bruchsal „Lebenslängliche“, allein sechs von ihnen sind seit über dreißig Jahren hier. Aber bei keinem von ihnen dauert „lebenslänglich“ schon vierzig Jahre. Namen und Worte sind Heinrich P. besonders wichtig. Worte weisen nicht nur auf etwas hin, ihre Buchstaben bedeuten selbst auch etwas, behauptet er: „Das Schicksal der Menschen steckt in den Buchstaben ihres Namens.“ Der Bruchsaler Gefängnisleiter Rüdiger Rehring zum Beispiel, „dieser junge Mann“, sei wegen der beiden „g“ in seinem Namen zum Friedenstiften berufen. Wie das gehen soll? P. wird ungehalten. Man müsse doch nur die Bergpredigt lesen, dann verstehe man: „Gott ist das Wort.“ Wenn man mit Worten sorgfältig und zärtlich umgehe, „dann kommen wir in ihren Sinn hinein“. Aha.

Heinrich P. duzt jede und jeden, bis hin zum Landesbischof, der einmal in Bruchsal vorbeikam. „Schließlich sind wir alle Kinder Gottes“, sagte Heinrich zu ihm. Heinrich will auch nicht gesiezt werden. „Man hat meinen Namen missbraucht“, sagt er. Er will seinen Nachnamen nicht hören. Denn er erinnert ihn daran, warum er im Gefängnis sitzt: Heinrich P. war ein Serienmörder. Er war im Badischen, was Fritz Haarmann zuvor in Norddeutschland und Jürgen Bartsch später im Rheingau gewesen ist: der Mann, mit dessen Namen Angst gemacht wurde. Um des Grusels willen verwenden manche Zeitungen immer noch nicht die schützende Abkürzung: Wie andere Serienmörder ist und bleibt P. etwas Allgemeines, eine öffentliche Person. Ab Mitte 1958 und in der ersten Hälfte des Jahres 1959 beging P. im Raum Karlsruhe eine vorher wie nachher in der Bundesrepublik beispiellose Serie von Verbrechen. An den Stätten seiner Gewalttaten erzählen Frauen, die damals jung und rothaarig waren, heute noch davon, wie Heinrich P. ihnen einmal auf den Fersen war, sie wissen's noch genau. Na ja – jedenfalls hätten sie ein Opfer P.s sein können. Wenn man ihn nicht doch noch gefasst hätte. Hinter P., so sagte der Oberstaatsanwalt 1960 im Prozess, „werden sich neun Türen schließen, durch die er nie mehr herauskommen soll“.

Das Gefängnis

Ob es neun Türen sind? Das Bruchsaler Gefängnis liegt in Rufweite vom Barockschloss des Städtchens, der ehemaligen Residenz der Bischöfe von Speyer. Die wollte der evangelische Landesfürst ärgern, als er ihnen die Haftanstalt ab 1841 in den Hintergarten setzen ließ. 1848, rechtzeitig, um die gescheiterten Revolutionäre unterzubringen, war das damals modernste Zuchthaus Europas fertig. Seine in die vier Himmelsrichtungen weisenden Flügel sind von einem zentralen achteckigen Turm aus einsehbar. Auch die drei Stockwerke mit Einzelzellen – einer weiteren, aus den USA importierten Neuheit – sind zu überschauen, weil sie nur durch Metallgitterlaufstege und -plattformen unterteilt sind. „Panoptisches System“ lautet der Begriff dafür.

Wachen patrouillieren auf der wallartigen Mauer, deren einzige Durchbrechung eine Stahltür ist, die sich – nur von einer Kamera überwacht – wie durch Geisterhand öffnet und schließt. Ein kopfsteingepflasterter Weg führt zum Tor hin, Stiefmütterchen rechts und links. Die ganze Anlage ist imposant und wirkt so museal, dass ausländische Touristen bisweilen einen Passanten fragen, ob diese „mittelalterliche Burg“ zu besichtigen sei.

Nicht, dass die Presse Heinrich P. hier besuchen dürfte. Anstaltsleiter Rüdiger Rehring lässt die Journaille an seinen Seniorhäftling nicht heran. „Was glauben Sie, wer den alles sehen will“, sagt er. „Die ganze Welt interessiert sich für ihn.“ Schriftlich kann man das von der Knastleitung auch bekommen: „Die Veröffentlichung des Falles [...] würde unseren Bemühungen, den schädlichen Folgen der Haft entgegenzuwirken, zuwiderlaufen.“ Worin diese Bemühungen bestehen, ist freilich nicht ganz klar. Denn die ersten Therapiestunden, die P. nach nunmehr vierzig Jahren Haft erhält, mussten von seinem Anwalt gegen den Willen der Strafvollzugsbehörden durchgeboxt werden.

Also kein Besuch, die Türen bleiben ungezählt, aber Heinrich P. telefoniert ja gerne. „Er verliert den Faden nicht“, sagen andere Häftlinge über ihn. Sie meinen, dass er im Stande ist, Gespräche zu führen, und auf Fragen bedacht antwortet. Die meisten Lebenslänglichen verfallen geistig nach zehn bis fünfzehn Jahren Haft und werden – im Knastjargon – zu „Zombies“, willenlosen Haftmaschinen. Doch Heinrich P. ist weder apathisch noch langsam von Begriff. Er spricht mit schwäbischem Einschlag, nur selten ist die mecklenburgische Herkunft herauszuhören. Er ist vollkommen deutlich zu verstehen, obwohl er seit zehn Jahren keinen einzigen Zahn mehr im Mund hat. P. pflegt seinen Sprachstil – etwas biblisch erhaben klingt er, und manchmal fallen gewichtige Worte auf. Etwa: „Das will man mir oktroyieren, dass ich hier ja gar nicht mehr herauswill. Aber das stimmt nicht.“ Wenn er auf seine diversen Leiden zu sprechen kommt, bezeichnet er sie mit vielsilbigen medizinischen Fachausdrücken.

Und es geht ihm immer schlecht, wenn man fragt: „Die Niere macht Schwierigkeiten, die Verdauung macht Schwierigkeiten, und das Herz, da habe ich angeblich nichts, aber ich hab nachts Stiche.“ Wie es aus ärztlicher Sicht um Heinrichs Gesundheitszustand bestellt ist, ist unklar, denn Heinrich hat sich seit zwei Jahren nicht untersuchen lassen. Auch um sein kolossales Übergewicht – weit über hundert Kilo wiegt er – kümmert er sich nicht weiter. Das ist unvorsichtig, denn Anfang der Neunziger war er schwer krebskrank, weshalb ihm 1993 eine Niere entfernt wurde. Metastasen waren bereits gefunden worden, Heinrichs Lebenserwartung betrug zum Zeitpunkt der Operation noch maximal fünf Jahre. Eigentlich sollte er also gar nicht mehr leben.

Der Knastor

Dass er trotzdem noch lebt, „ist ein Wunder“, sagt Ernst Ergenzinger, der ansonsten jedoch überhaupt nicht an dergleichen glaubt. Ergenzinger war bis 1996 Knastpfarrer auf dem Hohenasperg, in Baden-Württembergs einzigem Vollzugskrankenhaus. Heinrich war oft auf dem Hohenasperg, früher, in den Sechzigern, wenn er „getobt“ hatte, später, weil er Krebs hatte. Mitte der achtziger Jahre hat Ergenzinger Heinrich hier kennen gelernt, als der ihm nach dem Gottesdienst vorwarf, nicht fromm genug zu sein.

Ergenzinger nennt Heinrich P. abwechselnd einen Engel, einen Dichter und einen Heiligen. So, wie Ergenzinger Heinrich beschreibt, könnte er auch sich selbst beschreiben: groß, breitschultrig, mit weißem Rauschebart. Die beiden sind fast gleich alt, Anfang sechzig. Jeder Satz über Heinrich ist auch ein Satz über ihn selbst. Im Scherz gibt Ergenzinger das auch zu: „Manchmal ist es, als wenn ich mit Heinrich verheiratet wäre“, sagt er. Wenn er von Heinrichs Krankheiten spricht, erzählt er von seinen eigenen gleich hinterher, und beim Reden setzt er die gleichen Effektpausen: „Verstehst?“, sagt Heinrich oft und wartet kurz ab. „Kapiert?“, fragt Ergenzinger oft und wartet kurz ab.

„Knastoren“ nennt sich die merkwürdige Kaste der Knastpastoren selbst. Sie stellen für viele Häftlinge den einzigen Draht in die Außenwelt dar, sind zwar dem staatlichen Strafvollzug verpflichtet, noch mehr aber ihrem Gott und ihrem Gewissen und machen so im Knast manchmal das Unmögliche möglich. Für diese Fähigkeit war Ergenzinger schon auf dem Hohenasperg berüchtigt, sie hat ihm dort den Beinamen „Gandhi“ eingebracht. Seitdem er im Ruhestand ist, hat Gandhi es den Strafvollzugsbehörden noch nicht leichter gemacht. Sein Projekt: Heinrich soll nicht mehr Häftling sein, sondern Patient. Heinrich, sagt Ergenzinger, ist kein Mörder mehr, sondern ein kranker, alter Mann. Was bleibe da anderes übrig als der Schluss, dass Justiz und Politik „an Heinrich ein Exempel statuieren wollen“, fragt er. An solchen wie Heinrich solle bewiesen werden, dass jemand bis zu seinem Tode bestraft werden kann. „Heinrich hat gebüßt, seine Strafe ist zu Ende.“

Die Gerichte

Mit dieser Behauptung steht Ergenzinger nicht allein. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich schon mit dem Fall Heinrich P. befasst. In ihrem Beschluss vom 22. Mai 1995 entschied eine Kammer unter Vorsitz der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), Jutta Limbach, dass der schlechte Gesundheitszustand Heinrichs es gebiete, seine Entlassung vorzubereiten. „Es wäre mit der Würde des Menschen unvereinbar, die vom BVerfG geforderte konkrete und grundsätzlich auch realistische Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden, auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest zu reduzieren.“

Damit watschte das oberste Gericht die beiden niedrigeren Instanzen vor Ort ab, das Landgericht und das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe: Heinrichs Antrag auf Aussetzung der Haft hatte das Landgericht Ende 1993 unter Hinweis auf die „exorbitant große Schuld“ Heinrichs damit beschieden, dass er mindestens fünfzig Jahre in Haft bleiben müsse. Das ist die höchste von einem Gericht festgelegte Verbüßungsdauer, von der die Bundesrepublik bislang gehört hat. Das OLG ging Anfang 1995 auf 42 Jahre Haft herunter. Daraufhin hatte der Karlsruher Anwalt Hannes Linke für Heinrich Verfassungsbeschwerde eingelegt und Recht bekommen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist Heinrichs Schuld als gesühnt anzusehen.

Einen Zeitpunkt für Heinrichs Entlassung nannte freilich auch die Kammer Jutta Limbachs nicht. Wie lange „lebenslänglich“ maximal dauern darf und wie viel Jahre Haft eine besonders schwere Schuld aufwiegen, das sind Fragen, die das Gericht noch nicht abschließend geklärt hat. Fest steht jedoch seit seinem Urteil von 1977 folgendes: Artikel 1 des Grundgesetzes gebietet, dass jeder Strafgefangene ein Recht auf die Hoffnung hat, lebendig entlassen zu werden. Alles andere verstößt gegen die Würde des Menschen.

„Das Bundesverfassungsgericht selbst hat mir meine Würde zugesprochen“, sagt Heinrich. Er fühlt sich im Recht, nicht mehr schuldig – oder jedenfalls nicht schuldiger, als alle Menschen sind. „Ich bin doch ein anderer geworden“, sagt er. „Nicht rein, aber gewandelt.“

„Wir müssen die Würde durchsetzen“, sagt Ergenzinger. Das geht nur in kleinen Schritten. Ergenzinger will ja gar nicht, dass Heinrich morgen aus dem Gefängnis kommt. „Er braucht Freiheit, und das heißt, er darf nicht einfach nach draußen, denn da ist keine für ihn.“ Heinrich wäre in der bundesrepublikanischen Freiheit 1999 noch verlorener, als er es 1959 schon war. Würde, das wäre eine Therapie jenseits der Gefängnismauern. Würde, das wären regelmäßige Ausführungen, bewachte und betreute Ausflüge in die Welt.

Draußen

Drei Ausführungen hat Heinrich bisher bekommen. Die erste, 1993, führte in eine Kirche, zum Einkauf in die Stadt und hinaus aufs Land, Natur erleben. Heinrich soll so glücklich gewesen sein an diesem Tag, sagen alle, die dabei waren. Er behauptet, dass ihn die Welt nach 34 Jahren Gefängnis nicht besonders überrascht habe. „Na ja, auf dem Markt habe ich das Obst auf die Kasse statt auf die Waage gelegt, das sieht ja alles gleich aus.“ Aber das habe er sich dann ganz schnell erklären lassen. Die 1994er Ausführung ging ins Schwimmbad und soll viel Spaß gemacht haben. Die Kinder hätten Heinrich für den „Nikolaus auf Urlaub“ gehalten, berichtet Ergenzinger. Dann war für fünf Jahre Schluss: Das baden-württembergische Justizministerium lehnte jeden weiteren Antrag auf Ausführung unter Hinweis auf das „Risiko für die Allgemeinheit“ ab. „Was für ein Risiko bei einem, der nicht mehr davonlaufen kann?“, kommentiert Ergenzinger diese Entscheidung. Nach vielen anwaltlichen Schriftsätzen ans Gericht, ans Ministerium und an die Anstaltsleitung musste eine weitere Ausführung Anfang dieses Jahres bewilligt werden.

Als „Risiko für die Allgemeinheit“ gilt Heinrich so lange, bis ihm das Gegenteil bescheinigt wird. Denn auch wenn seine Schuld als gebüßt gelten darf, so hängt es von der Kriminalprognose ab, ob die Haft gelockert oder aufgehoben wird. Das psychiatrische Gutachten, das Professor Wolfgang Berner vom Hamburger Universitätskrankenhaus 1996 ausgestellt hat, ist nicht besonders günstig für Heinrich ausgefallen. „Ich bleibe dabei, dass es gefährlich ist, den Mann herauszulassen“, sagt Berner heute.

Da widerspricht ihm allerdings auch keiner: Nach vierzig Jahren Haft passt niemand von heute auf morgen in die Gesellschaft. Immerhin hält Berner eine Therapie außerhalb des Gefängnisses für nötig und möglich. Darüber, dass die Strafvollzugsbehörden nur die eine Hälfte seines Gutachtens – den gesenkten Daumen bezüglich der Kriminalprognose – ernst genommen haben, ist Berner ein wenig irritiert: „Ich habe vor drei Jahren eine Behandlung empfohlen; es hat sich jedoch noch niemand bereit erklärt, diese Behandlung zu machen. Seit dem Mai werden mit Heinrich nun im Knast alle vierzehn Tage therapeutische Gespräche geführt. Das ist keinesfalls die empfohlene Behandlung: Sie dienen nur der Feststellung, ob er überhaupt therapiefähig ist. „Ich gehe bewusst in die Gefahr rein, dass man mich ablehnt“, sagt er. Das wäre dann für lange Zeit, wahrscheinlich für immer, seine letzte Chance gewesen.

Der Serienmörder

Das Urteil vom Oktober 1960 zählt 27 schwere Straftaten auf, darunter: vierfacher Mord an Frauen, zum Teil in Tateinheit mit Notzucht – also Vergewaltigung –, versuchter Mord in zwölf Fällen, vollendete Notzucht, versuchte Notzucht, Unzucht mit einem Kind, gefährliche Körperverletzung, schwerer Raub in zwei Fällen, schwere räuberische Erpressung in zwei Fällen, schwerer Diebstahl in fünf Fällen. Das Schwurgericht Freiburg verhängte sechsmal lebenslänglich Zuchthaus plus fünfzehn Jahre. Der Presse war das zu wenig: „Und erneut erhebt sich [...] die Frage, ob die Höchststrafen für Kapitalverbrechen, wie sie heute verhängt werden, noch ausreichend sind“, schrieben die Badischen Neuesten Nachrichten. Die Süddeutsche Zeitung machte P. zur „Bestie“, ein Begriff, den er für sich übernahm: „Ich war eine Bestie.“

Der Spiegel brachte 1960 einen Artikel über die gänzlich erfolglosen Ermittlungen der Polizei. Nicht die vielen tausend befassten Beamten, sondern ein Herrenschneider in Hornberg, südlich von Karlsruhe, war es, der P. anzeigte, nachdem er zufällig Waffen in dessen Aktentasche entdeckt hatte. Nur durch P.s vollständiges Geständnis kamen später alle Taten ans Licht. Noch am Tag seiner Festnahme dachte die Polizei, ihr sei bloß ein junger Einbrecher ins Netz gegangen. Das war am 19. Juni 1959, P. war 21 Jahre alt.

Ein Foto P.s aus dem Gerichtssaal zeigt einen hochgewachsenen, gut aussehenden, fast hübschen jungen Mann mit hoher, breiter Stirn, großen, klaren Augen und einem darunter klein wirkenden, kaum merklich lächelnden Mund.

Die für den Prozess bestellten Gutachter beschreiben P. als kontaktarm und egozentrisch versponnen, jedoch korrekt und höflich, von angenehmen Umgangsformen. Alkohol, Tanz und Vergnügen seien seine Sache nicht. Nur ins Kino gehe er gerne, wobei er sich bevorzugt mit dem Kriminalkommissar im Film identifiziere. Anders als bei den meisten Serienmördern sei es nicht die Gewalt selbst, die P. Lust bereite, vielmehr diene ihm die Gewalt als Mittel zum Zweck, seine Opfer wehrlos zu machen.

Der zweckhafte Gebrauch von Gewalt, aber auch seine Fähigkeit zur Selbstkritik und die an Verbissenheit grenzende Genauigkeit in der Schilderung seiner Taten gereichen P. zum Nachteil: Ihm wird volle Schuldfähigkeit bescheinigt. Er sei weder geisteskrank noch „ein Produkt von rein schicksalhaft mitgebrachten ungünstigen Charakteranlagen“ oder Zeitverhältnissen. „Er hätte durchaus anders handeln können.“

Jugend

Hätte er? Heinrich antwortet nicht direkt. Er spricht über seine Kindheit, wenn er gefragt wird, warum er Mörder geworden ist. Dass er zum Stehlen von Nahrung angehalten und dann doch dafür bestraft worden sei, dass seine Mutter ihn nicht hatte haben wollen, dass sein Vater sinnlos grausam gewesen sei. Dass Krieg und Nachkriegszeit doch allen Kindern wie ihm die Kindheit genommen hätten. Er sucht Bestätigung, wenn er so redet.

Heinrich, geboren im Juli 1937 in einem Dorf bei Rostock, wächst teils bei seinen Eltern, hauptsächlich aber bei seinen Großeltern auf. Seine Mutter gilt als pathologische Lügnerin und gänzlich haltlose Persönlichkeit, die mit Heinrich nichts anfangen kann. Laut Zeugenaussagen vor Gericht schlägt der Vater Heinrich mit einer neunschwänzigen Lederpeitsche. Die Verhältnisse bei den Großeltern sind ärmlich. Obwohl „mindestens durchschnittlich begabt“ (Gutachter bescheinigen ihm später einen Intelligenzquotienten von 111), bleibt Heinrich in der Volksschule zweimal sitzen. Nach der sechsten Klasse entlassen, bricht er eine Malerlehre bald wieder ab und beginnt mit 16 Jahren zu vagabundieren.

Er arbeitet bei Schaustellern in der Schweiz, als Verkäufer in südschwäbischen Bahnhofskiosken, in einer Gaststätte im Rheinland und auch drei Monate als Page in Fernzügen. In Hamburg Anfang März 1958 wegen Einbruchs zum ersten Mal zu sechs Monaten Haft verurteilt, flüchtet er auf einem gestohlenen Damenfahrrad, wird jedoch wieder aufgegriffen. Mitte 1958 geht er nach Süddeutschland. Zu diesem Zeitpunkt hat er schon mehrfach Frauen angefallen, gewürgt und sie zu vergewaltigen versucht. Dutzende solcher Überfälle wird er später gestehen. Im Frühjahr 1959 landet er im Städtchen Hornberg als Kesselwäscher im Hotel Bären.

Er hat seinen ersten Mord schon begangen, als er hier, in Hornberg, mit dem zehnjährigen Thomas Schäuble und dessen großem Bruder Wolfgang ein paarmal Fußball spielt, nach der Arbeit. Heinrich ist Torwart. „Das war damals so: Die Buben verhaften die Älteren und stellen sie ins Tor.“ Ja, die Schäubles, die waren die „High Society von Hornberg“, die hätten auch ab und zu im Hotel Bären zu Abend gegessen. „Schließlich war es das feinste Haus am Ort.“ Zwei Minister Thomas Schäuble wird 1992 als Justizminister von Baden-Württemberg selbst darauf zu sprechen kommen, wie er mit dem „Massen- und Frauenmörder“ Heinrich P. Fußball gespielt hat. Als würde diese Erinnerung seinem Dafürhalten mehr Gewicht verleihen, sagt Schäuble in einer Radiogesprächsrunde: „Ich bin der Auffassung, dass ein solcher Mensch in Haft bleiben sollte.“

Schäubles Nachfolger im Amt, der amtierende Justizminister Baden-Württembergs, Ulrich Goll, sagt ganz Ähnliches: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass P. bis an sein Lebensende in Haft bleibt.“ Der Fall P. ist in Baden-Württemberg dank der Bemühungen Ergenzingers und des Anwalts schon lange Chefsache, und Goll ist mit dessen Einzelheiten wohl vertraut. Ebenso wie mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. „Ich weiß, dass jeder Häftling das Recht auf ein Licht am Ende des Tunnels hat“, das Recht auf die Hoffnung, lebend aus der Haft zu kommen, erklärt Goll. Dazu sind Resozialisierungsbemühungen wie Ausführungen und eine Therapie notwendig, kein Zweifel. Einerseits. Andererseits: „Wenn ich mitkriege, was P. gemacht hat, fällt es mir ein bisschen schwer, solche Klimmzüge zu machen.“ Nach der Gutachtenlage sei es möglich, dass von P. auch nach einer Therapie noch Gefahr ausgehe. „Ist es gerecht, wenn die knappen Mittel im Strafvollzug ausgerechnet in eine Therapie für P. gesteckt werden?“, fragt der Minister, und: „Ist es ungerecht, wenn P. in seinem Leben nicht mehr in Freiheit kommt?“

Jedenfalls ist es Unrecht, einfach darauf zu warten, dass er stirbt: Das hat das Vollzugsgericht entschieden. Unabhängig davon, wie die Therapie ausgeht, ist der Minister dazu „verdonnert“ (Goll) worden, Heinrich regelmäßige Ausführungen zu gewähren. Allerdings lässt man sich damit Zeit: Seit seinem letzten Ausflug vor acht Monaten hat Heinrich noch nichts von einem neuen Termin gehört. Die Gemütsruhe des Justizapparats wirkt, als habe sie System: Schon mehrfach sind P.s Akten in den vergangenen Jahren aus ungeklärten Umständen auf falschen Schreibtischen oder im falschen Regal gelandet, was zu Verzögerungen im Entscheidungsverfahren führte. Diese Art von „Aktentourismus“ – diese Bezeichnung fand der zuständige Richter – wurde vom Anwalt Hannes Linke gerügt; er hat Gerichte und Ministerium dann zu Entschuldigungen gezwungen. „Im Fall P. werden die Spielregeln nicht eingehalten“, sagt Linke dazu. „Dann werde ich böse.“ Das ist wohl einer der Gründe, warum Linke seit 1991 am Fall P. sitzt; denn zu der Frage, wer ihn eigentlich bezahlt, schweigt er höflich. Wie zu allen anderen Fragen auch – schließlich ist er Rechtsanwalt und kein Pressesprecher. Dafür ist Ergenzinger da.

Es ist riskant, in der Öffentlichkeit für die Würde eines Serienmörders zu werben. Den Humanisierern des Strafvollzugs bläst der Wind seit Jahren ins Gesicht. Die Fälle Ronny Rieken und Dieter Zurwehme haben es Leuten wie Ergenzinger nicht gerade leichter gemacht. „Aber hat jemand, der vierzig Jahre gesessen hat, noch etwas zu verlieren?“, fragt er.

Ulrike Winkelmann, 28, lebt als freie Journalistin in Hamburg.