Unsere Melodien

■ Kindheitserinnerungen und Liebeslieder galore: Stereo Total rockten das Kesselhaus

Das Kesselhaus der Kulturbrauerei, Stereo Total und Berlin gehören dieses Jahr mehr denn je zusammen. Das Gelände ist eine einzige Baustelle, die Luft ist voller Staub, überall stehen Bauzäune und Betommischmaschinen – genau die richtige Umgebung also für einen der oft unfertig und improvisiert wirkenden Berliner Stereo-Total-Auftritte.

Trotzdem gehorchen ihre Konzerte einer bestimmten Logik, beispielsweise sind die Vorbands nie nur dazu da, um schnell und gelangweilt ihren Auftritt runterzuspielen. Sie gehören zur Familie, spielen Lieblingsmusik von Stereo Total und bereiten gezielt auf sie vor. An diesem Abend ist es zum einen Morio, ein Alleinunterhalter aus Stuttgart, der mit Plattenspielern, Casettendecks und Keyboards komische Sounds produziert, seinen verdienten Applaus selbst mitgebracht hat und mit dem Publikum „Erkennen Sie die Melodie?“ spielt. Und zum anderen The Drags aus Alberquerque, die so aussehen, wie man sich Menschen aus New Mexico vorstellt, und auch solche Musik spielen: staubigen und stumpfen Rock 'n' Roll. (Bei ihrem Auftritt fällt einem spontan die Frage ein: Was macht eigentlich Razi von den Golden Showers? Der trieb sich nämlich in diesem Teil Amerikas rum, hat er die Drags möglicherweise entdeckt?)

Als Stereo Total beginnen, sind im ausverkauften Kesselhaus erst mal alle ein bisschen irritiert, inklusive der Band: Sollen sie noch ein bisschen an der Technik rumbasteln oder rumstehen oder doch einfach anfangen? Ganz unvermittelt singt Françoise Cactus dann ein Lied, die anderen stimmen ein, die Drum-Machine tut ihre Arbeit, und Brezel Göring und Bassistin Angie Reed bedienen vergnügt das Keyboard.

So spielen sie fünf oder sechs Songs, ohne dass das Publikum richtig mitgeht. Am schönsten ist es eben doch, wenn Stereo Total rocken. In den folgenden anderthalb Stunden aber lassen sie ihre Hitfabrik arbeiten, Punkrock-mäßig spielen sie dreißig oder gar vierzig Songs aus ihrem mittlerweile reichhaltigen Repertoire.

Die Mischung aus angedeutet kaputten elektronischen Sounds (Disco!) und Rock 'n' Roll funktioniert besser denn je, zu den alten Hits gesellen sich neue wie „Ich liebe dich, Alexander“, oder „Partir Ou Mourir“ (schluchz!), und selig singen und schunkeln alle mit. Kindheitserinnerungen galore und supreme: Stereo Total scheinen mit ihren Lo-Fidelity-Sounds, mit ihren Spielzeuginstrumenten und natürlich mit ihrem robust-naiven Charme genau diese bei einem Großteil des Publikums auszulösen. Natürlich mit ein paar Widerhaken. Ihr Auftritt wirkt ein bisschen so, als würden die Geister von Jonathan Meese und Mike Kelley Hand in Hand durch das Kesselhaus schweben.

Am Ende kündigt Brezel Göring einen Song an, „in dem es ums perfekte und gute Musikmachen geht, also etwas, das mit uns gar nichts zu tun hat“. Doch so ein schönes, für Stereo-Total-Verhältnisse gar perfektes Konzert haben wir lange nicht gesehen, das hätte noch ewig so weitergehen können.

Gerrit Bartels