Gefährliche Siege

■ Die jüngsten Erfolge der CDU, die mit der Landtagswahl in Hessen begannen und sich wohl auch morgen fortsetzen werden, kommen zu früh. Sie behindern eines der wichtigsten Projekte der Partei: Die bitter nötige programmatische Erneuerung. Bleibt sie aus, könnten die Triumphzüge von heute den Grundstein für die Niederlage von morgen legen – spätestens bei der nächstenBundestagswahl

Am kommenden Montag dürfte es Wolfgang Schäuble gehen wie am vergangenen. Da mochte der CDU-Chef mit dem Reden gar nicht mehr aufhören, so gut war seine Stimmung. Strahlend präsentierte er sich in Berlin mit den Siegern der Landtagswahlen im Saarland und in Brandenburg.

„Ein Wahlsieg, dessen Bedeutung man gar nicht hoch genug einschätzen kann“, schwärmte Schäuble, „eine wichtige Etappe für die CDU“, „ein großer Tag für Deutschland.“ Selbst als Brandenburgs Spitzenkandidat Jörg Schönbohm längst aufgebrochen war, um sich vor Ort auf Koalitionsgespräche mit der SPD vorzubereiten, fand Schäuble kein Ende. Da fiel fast nicht auf, dass am linken Rand des langen Konferenztisches eine Frau saß, die schwieg. Die Stirn in Falten gelegt, äußerte sich Generalsekretärin Angela Merkel mit keinem Wort zum Aufwind der Partei.

Merkel hat Grund zur Sorge. Die Wahlsiege der Union in den Ländern gefährden ihr Herzensprojekt: eine Reform der CDU.

Seit ihrem Amtsantritt im November 1998 tingelt Merkel durch die Republik und versucht hartleibigen Funktionären klarzumachen, was die verlorene Bundestagswahl bedeutet: Nicht der Wähler muss sich ändern, sondern die Partei. Mehr Offenheit und Bürgernähe predigt sie, preist das „Zuhörenkönnen“ an und benutzt überhaupt jede Menge Vokabeln, die zivilgesellschaftliche Lebhaftigkeit verbreiten sollen.

Dass die CDU nach 16 Bonner Regierungsjahren Veränderungen nötig hat, ist nicht allein Merkels Überzeugung. Die Mehrheit der Partei dafür zu gewinnen ist allerdings eine andere Sache. Nach den Erfolgen in Brandenburg und im Saarland dürfte die Aufgabe der Generalsekretärin noch schwieriger geworden sein. „Wenn einem die Wahlen fast in den Schoß fallen“, sagt der Mainzer Parteienforscher Jürgen Falter, „lässt sich die Notwendigkeit für Reformen kaum mehr vermitteln.“ Zu zwei Dritteln verdankt die Union ihren Stimmenzuwachs den Fehlern von Rot-Grün, schätzt Falter.

Im Ringen um eine Erneuerung der CDU kommen deshalb die Wahlsiege schlicht zu früh, sie täuschen trügerische Stärke vor. Damit berauben sie die Reformer ihres wichtigsten Druckmittels – der Angst, dass sich ohne einen harten Schnitt mit der Kohl-Ära die Pleite der letzten Bundestagswahl bei der nächsten wiederholen wird.

Am kommenden Sonntag droht Merkel neuer Kummer – weitere CDU-Erfolge stehen ins Haus. Bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen wird die SPD gerade in ihren Hochburgen schmerzhafte Verluste erleiden, von denen die CDU zumindest zum Teil profitieren wird. Bei der Landtagswahl in Thüringen hat Ministerpräsident Bernhard Vogel gute Chancen, der CDU die absolute Mehrheit im Landtag zu verschaffen und damit den ungeliebten Koalitionspartner SPD aus der Regierung zu werfen.

In ihrem Ruf nach einer breiten, auch kontroversen Debatte um den künftigen Kurs der Partei weiß Merkel sich einig mit CDU-Vordenkern wie dem ehemaligen „Zukunftsminister“ Jürgen Rüttgers. Parteichef Schäuble übernimmt den Part des pflichtschuldigen Mahners, hält aber ansonsten seine Hand über Merkels Aktionen. Man möge die konservativen Grundkoordinaten nicht aus den Augen zu verlieren, betont er gerne, Tabus und Denkverbote seien aber fehl am Platz. Gegen Kritik nimmt er seine Generalsekretärin stets in Schutz, denn der Parteichef weiß: Merkel kalkuliert strategisch. Die CDU braucht dringend neue Wählerschichten.

„Die FDP wird von der Dame ohne Unterleib zum Kopf ohne Körper“, umreißt Parteienforscher Falter die Schwindsucht beim einstigen Koalitionspartner der Christdemokraten. „Der CDU bleibt nichts anderes übrig, als sich zur linken Mitte hin auszudehnen.“ Schlecht stehen die Chancen dafür nicht, zumal die Sozialdemokraten derzeit eher mit neoliberalen Positionen Punkte machen. Parteichef Schäuble ist der Gedanke derzeit noch unheimlich. Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vertraute er seine Angst vor einer „großen politischen Rochade“ an, bei der sich die CDU plötzlich wirtschaftspolitisch „links“ von einer neuen SPD wieder finden würde. Jürgen Rüttgers dagegen, der im einstigen SPD-Stammland NRW Ministerpräsident werden möchte, ruft bereits nach einem entschiedeneren Schwenk in Richtung links, zumindest bei der Familien- und Sozialpolitik.

Erste Erfolge der neuen Offenheit sind im Internet zu besichtigen. Auf der offiziellen Website zur CDU-Familienpolitik finden sich zum einstigen Tabuthema „Gewalt in der Familie“ acht Rubriken, zum konservativen Renner „Schutz des ungeborenen Lebens“ nur drei. Anfang des Monats vermeldete die Pressestelle gar eine Zusammenkunft zwischen Generalsekretärin Angela Merkel und der Gruppe „Lesben und Schwule in der Union (LSU)“. Die Pressemitteilung bezeichnete vorsichtshalber die Begegnung als „informell“, betonte aber gleichzeitig, die LSU werde an der Anhörung zum familienpolitischen Leitantrag des Parteitags teilnehmen. Gerade in der Familienpolitik wird sich nach Überzeugung des Sozialwissenschaftlers Falter erweisen, wo die neue CDU sich positioniert. Im Moment beobachtet er einen „Spagat zwischen Vatikan und Wirklichkeit“.

Wie auch immer der Kulturkampf in der CDU endet, er wird nicht als großes Spektakel ausgetragen werden. Offiziell heißt es, die Wahlerfolge würden das Tempo der Reformen nicht drosseln. Der Erfurter Parteitag im Frühjahr habe klare Arbeitsaufträge erteilt, sagt Hans-Joachim Veen von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Wie kühn die Erneuerung ausfällt, entscheidet sich damit in diversen Kommissionen – auch in der CDU ein Hort von Stillhaltern und Aussitzern.

Patrik Schwarz, Berlin