Wenig Bewegung im Dienst der roten Fahne

■ Michael Gielen und das SWR-Sinfonieorchester überzeugten beim Musikfest mit einfühlsamer Haydn- und Mahler-Interpretation

Michael Gielen ist als Dirigent nie populär geworden. Was nicht ausschließt, dass er nicht einen jahrzehntelangen spektakulären Beitrag zum Musikleben geleistet hat. Er hat sich einen unerreichten Namen gemacht mit der Zusammenstellung von Programmen, die im musikalischen Material immer wieder neue, überraschende und historisch spannende Zusammenhänge und Kontraste sichtbar machten.

Zu der Notwendigkeit schlackenloser und struktureller Interpretation hat er immer radikal eine Programm-Dramaturgie vetreten. So sehr, dass seine Programme nicht selten eine Provokation waren, vom Publikum sowohl mit Dankbarkeit als auch mit erheblichem Protest angenommen. Unvergessen seine 1978 in Frankfurt durchgeführte Idee, Arnold Schönbergs „Überlebenden aus Warschau“ überraschend vor den letzten Satz von Beethovens neunter Sinfonie zu setzen.

Seine musikalische Arbeit versteht er politisch: „Nichts, was man tut, ist nicht auch politisch. Dass wir diese Oper, diese Konzerte gemacht haben, ist auf dem Gebiet, auf dem ich etwas leisten kann, durchaus politisch. Ich kann wirklich nicht mit der roten Fahne durch die Stadt ziehen. Aber in diesem Gebiet, in dem ich kompetent bin, mache ich eine so aufklärerische Kunsttätigkeit, wie sie überhaupt nur möglich ist“, sagte er anlässlich der Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises 1986 in Frankfurt.

Interpretatorisch ist Gielen einer der wenigen, die sich jenseits der historischen Aufführungspraxis für die Entschlackung der großen Sinfonik eingesetzt haben. Seine interpretorische Tradition ist die von René Leibowitz und Arturo Toscanini: Struktur geht über mulmige Gefühligkeit.

Wie unaufgesetzt und frisch der Zweiundsiebzigjährige dies alles macht, war nun zu erleben im Musikfestkonzert mit dem SWF-Sinfonieorchester, das jetzt in Folge der Fusion mit dem Orchester des Süddeutschen Rundfunks „SWR Sinfonieorchester“ heißt. Gielen hat das in Sachen Neuer Musik größte und traditionsreichste Orchester – unter den Dirigenten Hans Rosbaud und Ernest Bour – zehn Jahre geleitet.

Wieder gab es ein Programm, das auf den ersten Blick ungewöhnlich ist: Joseph Haydns „Nelson-Messe“ und die sechste Sinfonie von Gustav Mahler. Doch ein innerer Bezug wurde erschreckend deutlich: Das 1796 bis 1802 geschriebene Werk Haydns, entstanden zwischen der „Schöpfung“ und den „Jahreszeiten“, konfrontiert einen ungebrochenen, strahlenden Ton mit einer erschreckend düsteren Energie, die besonders in den Fanfaren des „Benedictus“ zum Ausdruck kommt.

Die Wiedergabe war zufriedenstellend und klangschön, aber etwas zu sehr geradeaus, undifferenziert wirkte die von Joshard Daus einstudierte EuropaChorAkademie, blendend hingegen die Sopranistin Eva Lind.

Mahlers 1903/04 entstandene sechste Sinfonie antizipiert in ihren grellen Farben, ihren Todesmärschen unmissverständlich den ersten Weltkrieg, das (logische) Ende dieses bürgerlichen Zeitalters, den Tod des Individuums, gefällt „wie ein Baum“ (Mahler). Wie sehr in diesem Sinne Mahlers „Brüche die Schrift von Wahrheit“ (Adorno) sind, machte Gielens große Interpretation faszinierend klar.

Beim Konzert im Großen Glockensaal zeigte sich Gielen als einer der großen Mahler-Interpreten, an diesem Abend sehr viel langsamer als in früheren Aufnahmen. Dafür erschien der Riesenapparat – mit sechs Schlagzeugern und doppeltem Blech – immer durchsichtig, eindrucksvoll gelangen die abrupten Wechsel der Atmosphären, die ständigen Taktwechsel im Scherzo, die apokalytischen Klangvisionen: eine nicht nur in bezug auf die Entstehungszeit bis heute unerhörtes und kaum verdauliches Werk.

Noch ein Wort zur Dirigiertechnik Gielens: seine – im Verhältnis zu seinen interpretatorischen Leistungen – Unpopularität hängt möglicherweise auch damit zusammen. Gielen bewegt sich kaum, reduziert sowohl Körperbewegung als auch Handzeichen auf das notwendige Minimum, wirkt weniger als ein expressiver Klangzauberer als eine nüchtern waltender Klangorganisator. Dieses exakt gemacht und einem Spitzenorchester wie dem SWR anvertraut, reicht jedoch völlig aus: die Expression bei Mahler kommt dann von selbst. Begeisterter Beifall nach einem Konzert, das ein Ereignis war.

Ute Schalz-Laurenze

Das nächste Konzert im Rahmen des Musikfestes: Jos van Immerseel dirigiert am Mittwoch um 20 Uhr in der Glocke Werke von Johann Strauß