■ Das Kernproblem der Bündnisgrünen im Osten ist, dass das Modell der West-Grünen schematisch dorthin übertragen wurde
: Keine Partei ohne Milieu

Jetzt zeigt sich: Ohne den „Umweg“ über die Zivilgesellschaft geht es nicht

Das Dümpeln der Bündnisgrünen im Osten geht weiter, ohne dass die Verantwortlichen sich bemüßigt fühlen, den tieferen Ursachen des Debakels auf den Grund zu gehen. Und: Die Talsohle ist noch längst nicht erreicht.

Für die Parteistrukturen im Osten stellt sich angesichts dieser Lage ernsthaft die Frage, welchen Sinn ein stures Weitermachen noch hat. Zumal auch Rückstoßeffekte in den Westen mittlerweile nicht mehr auszuschließen sind.

Dabei ist das Kernproblem der Grünen im Osten keineswegs der Mangel an sozialen und ökologischen Alternativkonzepten, sondern die Tatsache, dass ihre Konzepte – anders als im Westen – nicht auf ein entsprechendes Milieu stoßen. Ohne ein solches Milieu – das hat die west-alternative Geschichte hinlänglich bewiesen – ist aber ein erfolgreiches neues Parteiprojekt unmöglich. Das bewährte westdeutsche Modell einer Bewegungspartei schematisch und ohne Rücksicht auf die mental und strukturell unterschiedliche Situation im Osten übertragen zu haben, erweist sich nun als der kardinale Konstruktionsfehler der Partei der Ost-Grünen.

Dabei gab und gibt es durchaus bedenkenswerte Ansätze, die aus dem Dilemma herausführen könnten. Als im September 1990 das „Bündnis 90“ aus der Taufe gehoben wurde, sollte der gemeinsame politische Ansatz ein offenes, für die Artikulation von Bürgerinteressen durchlässiges Parteiprojekt ermöglichen.

Seinen tieferen Kern hat(te) dieser Anspruch in der rapiden Änderung der politischen Geografie der neuen Bundesrepublik und der damit verbundenen Legitimationskrise des Parteiensystems, die im Osten erkennbar stärker durchschlägt als im Westen: Seit den ersten freien Wahlen 1990 ist die Zahl der Nichtwähler immer weiter gestiegen. Viele entscheiden sich bewusst für die politische Abstinenz gegenüber einer vermachteten Politiksphäre.

Der Ur-Ansatz von Bündnis 90 war es demgegenüber, die Politik durch neue Möglichkeiten der zivilgesellschaftlichen Einflussnahme zu öffnen und diejenigen einzubeziehen, die ihr sachliches und fachliches Engagement nicht mit einer parteipolitischen Entscheidung verbinden wollen. Ernst zu nehmende Einschätzungen der bisherigen Parteien-„Kultur“ – von Hildegard Hamm-Brücher bis zu Richard von Weizsäcker – bestätigen den Ansatz, ein Projekt zu entwickeln, das Kommunikation und Entscheidungsfindung jenseits egoistischer Clan-Interessen ermöglicht. Es ging also um das Projekt einer politischen Partei, dessen philosophische Grundidee auf dem Prinzip der Teilhabe und der Eigenverantwortung der BürgerInnen beruht und dem eine offene, die Grenzen der Parteienkorsette überwindende Politik der Bürgerbeteiligung entspricht.

Dass den sozialen und ökologischen Herausforderungen der modernen Industriegesellschaft nur mit gesellschaftlichen Bündnissen neuer Art beizukommen ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Viele im Bündnis 90 hatten die Hoffnung, gemeinsam mit den Grünen als „originärem Bündnispartner“ den Kern für ein solches Zusammengehen zu realisieren: Es sollte nicht nur eine „simple Addition mit den Grünen“ vollzogen, sondern „in der historisch einmaligen Situation Deutschlands nach der Wende etwas entscheidend Neues“ geschaffen werden: ein Projekt mit ausstrahlender Wirkung für neue gesellschaftliche Bündnisse.

Stattdessen entstand im Osten ein stinknormaler Abklatsch der Westpartei – alle Kinderkrankheiten entstehender Parteiapparate inbegriffen. Warnende Stimmen gingen im grünen Parteiwerdungsfieber unter.

Während sich die Kleinstverbände der Bündnisgrünen im Osten mit den ach so wichtigen Fragen des „Parteiaufbaus“ und der mühseligen Aufrechterhaltung ihrer Apparate befassten, entwickelte sich landauf, landab eine Bewegung für neue öko-soziale Bündnisse von den Wirtschaftsverbänden bis zu den Umweltorganisationen. In den kommunalen Bündnissen zur „Lokalen Agenda 21“ finden sich auch jene zivilgesellschaftlichen Strukturen wieder, die nach der Wende in einem „zweiten Schub“ auf lokaler und regionaler Basis – meist in bewusster parteipolitischer Abstinenz – entstanden sind. Hier entsteht exakt jenes Bewegungsmilieu, das die künftige Wählerschaft eines offenen und bürgernahen Parteiprojekts abgeben könnte.

Der Agenda-21-Prozess und ähnliche zivilgesellschaftliche Ansätze böten den verbliebenen bündnisgrünen Aktivisten die Chance, sich aus dem isolierenden Parteikokon zu befreien und sich mit ihrem Erfahrungspotential – etwa dem der Runden Tische – als Konstrukteure solcher neuen Bündnisse zu betätigen. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass die ost-grünen Landesverbände diese (letzte?) Chance überhaupt wahrnehmen und sich zu Konsequenzen durchringen würden, die den klassischen Parteistrategen ganz und gar zuwider sein dürften.

Es geht um die Rückschraubung der Parteistrukturen auf ein Mindestmaß und um den bewussten Verzicht auf parteientypisches Konfrontationsgehabe. Denn einerseits wissen alle Beteiligten inner- und außerhalb der Bündnisgrünen, dass diese Parteistrukturen sowieso brüchig und unattraktiv sind. Andererseits stehen sie aber vor allem der eigentlichen politischen Aufgabe im Wege: der Schaffung vielfältiger offener Foren, Runder Tische und Zukunftswerkstätten, an denen alle Interessengruppen der Gesellschaft teilhaben können, ohne sie gleich einer parteipolitischen Einvernahme auszusetzen. Es geht um neuartige „Interessenpartnerschaften“, die die trennenden Partikularinteressen der beteiligten Seiten bewusst in den Hintergrund stellen, um auf diese Weise zu gesamtgesellschaftlich tragfähigen – und, wo nötig, auch ostspezifischen – Problemlösungen zu gelangen.

Die Parteistrukturen stehen der eigentlichen Aufgabe der Grünen im Wege

In diesem Sinne stehen die Ost-Bündnisgrünen vor einer Schicksalsentscheidung: entweder die klassische Parteiaufbaustrategie – dass heisst konkret Mitgliederwerbung, Vegetieren auf schlecht besuchten Ortsverbandssitzungen, Profilierung auf Kosten der anderen und so weiter – bis zum bitteren Ende fortzusetzen und sich dabei der Gefahr auszusetzen, dass sich die Talsohle am Ende als Tiefebene erweisen könnte; oder aber ihren Beitrag zu leisten für eine gemeinsame, die Interessengruppen zusammenführende Zukunftsgestaltung, über die – und nur über die! – sich auf Dauer auch das heiß ersehnte grüne Wählermilieu bilden wird.

Ohne den „Umweg“ über die Zivilgesellschaft geht es nicht. Mit dieser späten Erkenntnis zu leben und die „Strukturfrage“ im Osten neu zu stellen mag besonders jenen schwer fallen, die sich 1993 Hals über Kopf in das Projekt „Partei“ gestürzt haben.

Erhard O. Müller