Olano zählt emsig die Sekunden

■ Nachdem Abraham Olano am Anglirú-Pass seine Führung bei der Spanien-Radrundfahrt behaupten konnte, hofft die Konkurrenz auf die nächsten Bergetappen

Pamplona (taz) – Sie wollten Geschichte schreiben, die Verantwortlichen der Spanien-Rundfahrt, mit der Zielankunft auf dem 1.573 m hohen Anglirú. 23,6 Prozent Steigung hat der Pass an der steilsten Stelle, keiner im internationalen Radsportkalender ist steiler. Am Ende musste am Sonntag bei Nebel und Nieselregen zwar keiner der Fahrer wie vorher befürchtet schieben, doch es schien, als hätte jemand das Videoband vom letzten Jahr eingelegt: Der spanische Publikumsliebling José Maria Jiménez, „El Chava“, fing auf den letzten Metern den ausgerissenen Russen Pawel Tonkow ab und wurde Etappensieger. Vorjahressieger Abraham Olano keuchte so gut es ging hinterher und verteidigte mit Platz fünf und einem Rückstand von 1:44 sein Gelbes Trikot.

Alles wie im letzten Jahr, nur Olanos Sponsor hat gewechselt. Weil der populäre Jiménez die Helferrolle wenig ernst nahm und seinen Kapitän am Berg regelmäßig allein zurückließ, ging der Mann aus San Sebastián vom gemeinsamen Rennstall Banesto zum Erzkonkurrenten Once. Mit vier gewonnenen Bergetappen und dem Trikot des besten Kletterers hatte „El Chava“ 1998 Olanos in unspektakulärer Manier errungenen Gesamtsieg locker in den Schatten gestellt. Der Baske zehrte allein vom Vorsprung, den er bei seiner Spezialität, dem Rennen gegen die Uhr, herausfuhr. Im vergangenen Winter schickte Banesto Jiménez in den Windkanal, um seine abgrundschlechten Leistungen im Zeitfahren zu verbessern. Vergeblich. Am Freitag in Salamanca verlor er sechseinhalb Minuten auf den überlegenen Olano.

In einer monatelang vorbereiteten Medienkampagne war der Anglirú schon zum Mythos gemacht worden, bevor überhaupt je ein Rennen hier geendet hatte. „Ein Spektakel für die Zuschauer, Leiden für uns Fahrer“, kommentierte der Spanier Miguel Ángel Casero die Idee, die erst vor sechs Jahren geteerte Piste hinauf in die Berge, wo es außer Kühen nicht mehr viel zu sehen gibt, in die neue Hölle des Radsports zu verwandeln. Angesichts der Kritik durch die Fahrer hatte die Organisationsleitung angekündigt, die Steigung bei Regen zu verkürzen. Doch Vuelta-Direktor Enrique Franco räumte schließlich ein: „Ich glaube, wir haben so große Erwartungen geschaffen, dass die Fahrer da hoch müssen, auch wenn es regnet.“ Ein Großaufgebot der Polizei war damit beauftragt, eine schmale Gasse durch die Menge tausender begeisterter Fans freizuhalten.

Über den Anstieg zum Anglirú wurde soviel geredet, dass niemand recht auf die Abfahrten achtete. Ein schwerer Fehler, denn diese waren rennentscheidend. Mitfavorit Fernando Escartin stürzte und schied mit dreifachem Rippenbruch aus. Auch Abraham Olano brauchte die helfende Hand des Belgiers van de Wouwer, um aus dem Gebüsch zu kommen. In einer der regennassen Kurven kam er vom rechten Weg ab und verlor am Fuß des Anglirú wertvolle Zeit. In einer stürmischen Aufholjagd bewies er seine momentane Glanzform. Dennoch wiederholte er im Zielraum vor laufenden Kameras ein ums andere Mal: „Wenn ich nur nicht gestürzt wäre. Ich hätte den Angriff von Tonkow abwehren können.“

Der Russe liegt mit 2:58 Minuten Rückstand auf Platz drei. Als hervorragender Kletterer gilt er nun als Hauptkonkurrent um den Sieg in Madrid. Einer der wenigen, der tatsächlich wie beim Mountainbike den dritten Zahnkranz auflegen ließ, war Jan Ullrich. Der Tour-Sieger von 97 hatte sich bis vier Kilometer vor dem Ziel in der Spitzengruppe halten können. Erst an den über 20 Prozent steilen Rampen, als ihn auch Olano überholte, schaltete er auf seinen eigenen Rhythmus und erreichte mit 2:46 Minuten Rückstand auf Jiménez als Siebter das Ziel. Im Gesamtklassement ist er mit 2:08 Minuten auf Olano weiter Zweiter. Während der spanische Zeitfahrweltmeister angesichts vier noch ausstehender Bergankünfte nun jede Sekunde zählt, die ihm die Kletterer abnehmen, fährt Ullrich die Vuelta vollkommen auf sich selbst konzentriert. Banesto-Direktor Eusebio Unzue zeigte sich am Anglirú beeindruckt: „Der kommt jeden Tag besser in Tritt.“

Joachim Quandt