Lebensgestaltender Versuch auf halbem Weg

■ Brandenburg erfand nach der Wende einen Unterricht für „Lebensgestaltung“, der allen Schülern einen Werte vermittelnden Ersatz für Religion bieten sollte. Wie geht's dem Fach?

Potsdam (taz) – Klasse 7 b geht mit hochroten Köpfen und verschwitzten Haaren in ihre zweite LER-Stunde in diesem Schuljahr. Vorher war Sport am Espengrund-Gymnasiums in Potsdam. Nun sitzen die Schüler im Kreis. Was wissen wir über den anderen, will die Lehrerin wissen. Friderike schlüpft in Evelyns Identität: „Ich esse gern Spaghetti, und dazu Zitronenlimo.“ Evelyn kennt Friderike ganz genau: „Mein Hamster ist vor kurzem gestorben, und ich esse am liebsten Kohlroulade, und dazu Sprite.“ Den Rest der Stunde wird über den Sinn von Noten diskutiert. Die meisten finden sie doof. Ein paar Mädchen halten sie für unbedingt notwendig. Das gefällt Eleonore Jahn, der Lehrerin, die ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will.

Alle SchülerInnen, egal ob katholisch, evangelisch oder konfessionslos, können sich im Schulfach mit den drei Buchstaben LER gemeinsam mit ihren Lebensproblemen auseinandersetzen – sowie mit ethischen und religionskundlichen Fragen. LER steht für „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“. Einer Bevölkerung, die zu über 80 Prozent keiner Religionsgemeinschaft angehört, wurde in Brandenburg nach der Wende ein Schulfach für lebensbezogene Orientierungen angeboten, das nicht „Religion“ heißt.

„Der Staat kann sich nicht als allumfassender Erklärer aufspielen“, sagt Reinhard Stawinski kategorisch. Der Religionskundler und Sprecher der evangelischen Kirche in Brandenburg erzürnt sich noch heute über LER. Die Kirchen nämlich dürfen lediglich „authentische Vertreter“ in den LER-Unterricht entsenden. Und das nur zeitweise. Dagegen argumentiert Stawinski: „Wenn sie völlig unmusikalische Menschen vor eine Klasse stellen, und die sollen den Schülern die Schönheit einer Mozart-Sinfonie nahe bringen – das wird nichts.“

Am liebsten hätten die Kirchen auch im atheistischen Brandenburg ein eigenständiges Unterrichtsfach Religion durchgesetzt. LER aber wurde von den mit absoluter Mehrheit regierenden Sozialdemokraten zum Pflichtfach gemacht. Dagegen klagten die Kirchen zusammen mit der Unionsfraktion des Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Die Klage ist noch nicht entschieden. Das Fach LER entwickelt sich unterdessen – schrittweise. Frau Jahn ist froh, dass es noch keinen Rahmenlehrplan vom Bildungsministerium gibt. Da kann sie machen, was sie für richtig hält. Vorerst interpretiert sie das L (Lebensgestaltung) aus LER frei. Für die beiden anderen Buchstaben muss sie sich fortbilden. Zwei Semester von vieren hat sie bereits in der LER-Lehrerbildung an der Uni Potsdam hinter sich. Beim Kantschen Imperativ sei sie grade angekommen.

Erst mit Beginn des Schuljahres startete der LER-Unterricht am Espengrund-Gymnasium. Jetzt gehört es zu den über 300 Schulen in Brandenburg, die das Fach in der Sekundarstufe I, von der siebten bis zur zehnten Klasse, anbieten. Zu den Skeptikern gehört Wolfgang Puschmann. Er ist der Chef von Eleonore Jahn, der Direktor der Schule. „Ich würde LER keine Träne nachweinen, bisher war ich glücklich ohne“, sagt Puschmann. Die Lehrer seien noch nicht vernünftig ausgebildet. Es gebe Überschneidungen zu anderen Fächern. Und keiner könne so recht den Spagat zwischen Vermittlung von Wissen und Werten schaffen. Dass es keine Noten in LER gibt, begrüßt der Rektor. So ein Fach diene doch zum Aufschließen der jungen Leute, sagt Puschmann, mit Noten aber würde die Tür gleich wieder zufliegen.

Monopolisierung – das ist der Haupteinwand, den die Kirchen LER entgegenbringen: Der Staat habe den Religionsunterricht an sich gezogen. Als Wahlpflichtfach könnte Stawinski sich LER vorstellen, nicht aber als verbindliches Fach. Der Kirchensprecher plädiert daher für ein „mannigfaltiges Angebot“. Die Schüler müssten eine der großen Weltreligionen fakultativ wählen können. Von LER solle nur Ethik übrig bleiben, als gleichberechtigter Alternative zu Religion.

Das aber würde die ursprüngliche Konzeption von LER konterkarieren – ein gemeinsames Werte vermittelndes Schulfach für alle Schüler. Schon Ministerpräsident Stolpe, der das Fach zur Chefsache erklärte, hatte an dem gemeinsamen Fach gerüttelt, als er eine sogenannte Differenzierungsphase verordnete: Zeitweise sollten die gläubigen von den ungläubigen Schülern getrennt werden, befand der ehemalige Kirchenjurist. Nur in drei von den ursprünglich 44 LER-Modellschulen wurde indes die Differenzierung Wirklichkeit: Es fehlte schlicht an der Nachfrage von religiösen SchülerInnen. Und so kehrt die komplizierte konzeptionelle Debatte immer wieder auf Brandenburgs konfessionelle Situation zurück: Nur 20 Prozent gehören eine Kirche an.

Stawinski ärgert es, wenn die Befürworter von LER darauf verweisen. Nein, man wolle nicht missionieren. Aber ordentliche Bildungsangebote schaffen.

Robert von der 7 b am Espengrund ist das eh wurscht. Er setzt andere Prioritäten. Er mag LER, weil man da „ganz gut abhängen kann“. Markus Völker