Peking wird zum Schmelztiegel

Zu den 50-Jahres-Feiern der Republik wollen die Kommunisten ungeliebte Wanderarbeiter aus der Hauptstadt verbannen. Doch die ist der größte Magnet für die innere Migration Chinas  ■   Aus Peking Georg Blume und Chikako Yamamoto

Anarhan besitzt den weißen Teint einer hoch gewachsenen Nordchinesin, umhüllt vom Schleier des Islam. Exotischer geht es in Peking kaum. Doch die elegante Muslimin, die im Hinterhof eines niedrigen Backsteinbaus einen Restaurantbetrieb führt, ist sich ihres gehobenen Fremdenstatus nicht mehr sicher: „Es kann sein, dass die Polizei unbestechlich wird. Dann werde ich mein Lokal schließen müssen“, sorgt sich die Mutter von fünf Kindern.

Anarhan ist Uigurin, Angehörige einer turkmenischen Minderheit aus der westchinesischen Wüstenprovinz Xinjiang. Wie die Zuwanderer aus anderen Provinzen Chinas, von denen fast jede Gruppe einen Stadtbezirk für sich reklamiert, haben sich auch die Uiguren ein eigenes Viertel in der Hauptstadt erobert. Doch nun wird das wegen seiner muslimischen Gaststätten bekannte „Xinjiang-Dorf“ abgerissen. Die Behörden haben freie Hand: Den Betrieben fehlt eine Lizenz, ihren Betreibern in aller Regel eine Aufenthaltsgenehmigung. Und die Uiguren, die zu den am stärksten diskriminierten Minderheiten Chinas zählen, besitzen keine Provinzlobby in der Partei, die sie vor Ausweisungen schützt. „Für uns ist der Unterschied zwischen Gesetz und Wirklichkeit so groß wie zwischen Himmel und Erde“, sagt Anarhan, die ihr Restaurant bislang mit ihrem guten Ruf und kleinen Bestechungsgeldern retten konnte.

Seit dem Frühjahr, als in Peking die Vorbereitungen für die großen Feiern zum 50-jährigen Bestehen der Volksrepublik am 1. Oktober begannen, ähneln große Teile von Peking einer Abbruchstelle. Bulldozer und Planierraupen verbreitern Plätze und Alleen und zerstören dabei zahlreiche Märkte, Budenansammlungen und Altbausiedlungen. Opfer sind meist die Zuletztgekommenen: sogenannte „Wanderarbeiter“ aus allen Ecken des Riesenreichs, die sich an den Straßen der Hauptstadt mit kleinen Diensten und Geschäften einen Lebensunterhalt verdienen.

Hinter den groß angelegten Festvorbereitungen steckt der verzweifelte Versuch der Stadtregenten, Peking wieder zu dem zu machen, was es einmal war: eine streng überwachte Hauptstadt, in der die Kommunisten wissen, was passiert. Schon hat die Stadtregierung eine halbe Million Wanderarbeiter zurück in die Provinzen geschickt und „fünfzehn Millionen Kubikmeter kleiner Hütten und Geschäfte“ niedergewalzt, wie es in der Presse hieß. Gleichzeitig wurde das Stadtzentrum aufwendig renoviert. Und doch ist der Versuch, die alte Ordnung wiederherzustellen, zum Scheitern verurteilt. Zwei Jahrzehnte Reform- und Öffnungspolitik haben die langweilige Beamtenstadt Peking unwiderruflich in die größte Migrationsmetropole der Volksrepublik verwandelt.

Drei Millionen besitzen keine Papiere

Hunderttausende von Wanderarbeitern brechen jedes Jahr aus den armen Provinzen in das vergleichsweise reiche Peking auf. Wobei der Begriff der Wanderarbeiter eigentlich falsch ist und aus den Achtzigerjahren stammt, als die ersten Landarbeiter, die durch die große Bodenreform von 1978 freigesetzt wurden, nach neuer Arbeit in den Städten suchten. Heute sind aus den Wanderarbeitern in den meisten Fällen sesshafte Stadtbewohner geworden. Allerdings fehlen den Migranten in aller Regel die Papiere, die ihren neuen Wohnort ausweisen.

So besitzen nach einer Volkszählung vom November 1997 drei Millionen Menschen, die in Peking leben, keine feste Aufenthaltsgenehmigung. Demnach darf sich jeder vierte Bewohner der Stadt nicht als Pekinger bezeichnen und kann jederzeit aus dem Stadtgebiet verwiesen werden. Fürs ganze Land wird die Zahl derjenigen, die sich nicht an ihrem regulären Wohnort aufhalten, von der Regierung sogar auf achtzig Millionen geschätzt, und selbst das ist vermutlich eine Untertreibung.

Doch befinden sich diese Menschenmassen eben nicht jeden Tag auf der Straße, wie die alte Bezeichnung Wanderarbeiter suggeriert. Es handelt sich vielmehr um eine von Behörden und Statistikämtern nicht anerkannte Landflucht gigantischen Ausmaßes. Da sich die Betroffenen dabei in einem so großen Land wie China über ungeheure regionale, kulturelle und soziale Gegensätze hinwegsetzen müssen und ihren alten Heimatort oft tausende von Kilometern hinter sich lassen, haben westliche Chinaforscher von der größten Völkerwanderung der Weltgeschichte gesprochen. Dagegen spielen chinesische Politiker das Phänomen eher herunter, denn sie haben es in der Bevölkerung oft mit starken Vorbehalten gegenüber den Fremden zu tun.

„Waidiren“ – Leute von draußen – nennt man die Neupekinger. Früher versammelten sie sich gleich nach der Ankunft rund um den Hauptbahnhof, um mit einem Schild um den Hals einen Job anzuheuern. Inzwischen läuft der Wohnortswechsel diskreter ab. Meistens verfügt man bereits über eine Adresse in der Hauptstadt. Nicht nur Großfamilien und Unternehmen unterhalten innerhalb der Metropole ihre Anlaufpunkte, oft findet sich die alte Dorfgemeinschaft in einer kleinen Stadtwohnung wieder. Dabei reißt der Strom der Neuzugänge nicht ab. Dafür verantwortlich ist die Zahl der überflüssigen Arbeitskräfte auf dem Land, die sich bis heute auf mindestens zweihundert Millionen beläuft.

Doch ganz gleich, wie mittellos die Söhne und Töchter der Provinz ihre Hauptstadt erreichen – Migrantenmilieus gelten nicht mehr zwangsläufig als arm. So heißt der berühmteste Neubürgerstadtteil Pekings Zhongguancun. Ihn ehrt der Ruf, das chinesische Silicon Valley zu sein – ein Garagendorf, aus dem die neuen Ideen für den Aufbau des Landes kommen. In dem Labyrinth moderner Kleinbetriebe findet sich kaum ein Pekinger zurecht. Die meisten Existenzgründer sind Ex-Studenten aus der Provinz, für die hier statt der alten Hoffnung auf das Mandarinat der neue Traum einer Bill-Gates-Karriere schlummert.

Für Wang Ming wird der Traum wohl nicht mehr in Erfüllung gehen. Mit 25 Jahren verkauft der studierte Computerprogrammierer immer noch Hardware statt Software. Doch seine Jugend in der Steppe hat der gebürtige Mongole weit hinter sich gelassen. Jetzt sitzt Wang im zweiten Untergeschoss eines alten Pekinger Kaderhotels und erteilt Befehle an ein Dutzend Service-Teams, die für ihn Kunden in der Stadt betreuen. Über hundert Angestellte verfügt der junge Chef – unter ihnen nur wenige Hauptstädter. „Die Leute kommen aus ganz China. Bei uns zählt weder Herkunft noch Studium, sondern nur die Qualifikation“, erklärt Wang.

Sprung vom Land in den Dienstleistungssektor

Auf Plateausohlen springt die 21-jährige Bauerstochter Liang Li mit einem Laserdrucker unterm Arm die Kellertreppe hinab. Vor einem Jahr lebte die junge Sichuanerin noch bei ihren Eltern auf dem Dorf, zweitausend Kilometer entfernt von der Hauptstadt. Jetzt ist sie unter Wang für die Lagerhaltung am Bildschirm zuständig – und verdient dabei mit einem Monatslohn von 1.000 Yuan (umgerechnet 320 Mark) soviel wie ihr Vater in einem ganzen Jahr. „Ich wollte nicht Bäuerin bleiben. Deswegen erfand ich einen Vorwand, um nach Peking zu kommen“, berichtet Liang. Sie ahnt nicht einmal, welches Glück sie gehabt hat.

Die meisten jungen Frauen aus der Provinz bleiben in einem der drei Hauptberufe für Wanderarbeiterinnen stecken: Entweder sie heuern als Kinderfrau an, oder sie verdingen sich als Kellnerin oder Bardame. Sie sind damit die ersten Ausgebeuteten der unter Dengs Reformkommando neu entstandenen Mittelschicht – für Frauen nicht gerade eine Gesellschaft mit feinen Sitten.

Man muss abends in Peking nur auf die bunten Lichter warten. Folgt man ihrem grellen Schein in die Discos und Karaoke-Bars der Hauptstadt, endet man meist zwischen jungen Frauen aus den armen Bauernprovinzen am Gelben Fluss, die gar nicht anders können, als von ihrem entbehrungsvollen Landleben zuvor und dem großen, neuen Luxus im Rotlichtmilieu zu berichten.

Es sind Dienstleitungen aller Art, die Prostitution inbegriffen, mit der die Migranten die Wirtschaft der einst industrieversessenen Kommunistenkapitale aufmischen. Dahinter steckt eine einfache Logik: Viele müssen den Sprung vom Primär- direkt in den Tertiärbereich schaffen, um damit den von den Kommunisten abgewirtschafteten Sekundärsektor zu umgehen. Chinas innere Migration überwindet also nicht nur Geografie und die meisten Gesetze, sie überspringt auch eine ganze Epoche der westlichen Geschichte: das Industriezeitalter.

In Wirklichkeit sind Partei und Behörden in Peking nur Zuschauer dieser rasanten Entwicklung. Die Wahrheit in den Tatsachen suchen – Dengs berühmter Ausspruch – ist die einzige Methode, dem Dilemma zu entkommen, dass fast alle Wanderarbeiter ständig die Gesetze brechen und sich an keine Vorschrift halten. Welcher Betrieb in Zhongguancun zahlt etwa Steuern? Welche Kellnerin aus Sichuan entrichtet Beiträge in die gesetzliche Krankenkasse? Geregelt ist im Grunde nichts und doch alles: Denn bisher versinkt Peking nicht in Chaos oder Kriminalität. Das Gegenteil ist richtig: Die Stadt boomt.

Die Aufräumarbeiten der Bulldozer gleichen insofern einer symbolischen Maßnahme: Dort, wo die Migration das Stadtbild im Zentrum zu beeinträchtigen droht, wird planiert. Doch bis in die Vorstädte oder die Etablissements der Nacht reicht der Arm der Ordnungskräfte nicht. Gerade weil sich die Migrantenwirtschaft viel schneller auf die neuen Bedürfnisse der postindustriellen Gesellschaft einstellt, wäre dies auch für die vom Wachstum abhängige Regierung gefährlich.

So liegt die neue Hauptstadtrealität dort, wo sich die Migranten etablieren: Zum Beispiel im Außenbezirk Muxiyuan, dessen Straßenbild an eine südchinesische Kleinstadt erinnert: Überall ist Markt. Nicht einmal Autoverkehr dringt durch die Gassen. Stattdessen gibt es unzählige Rikschas, die in den meisten Bezirken der Hauptstadt verboten sind. In Muxiyuan ist ein neuer Kosumgütermarkt entstanden, der die Pekinger Großkaufhäuser beliefert. Das Geschäft liegt fest in der Hand von Migranten aus der Küstenprovinz Zhejiang, die sich gerne als „Halbpekinger“ bezeichnen.

Darin aber besteht ein großer, immer noch verkannter Erfolg nach 50 Jahren Volksrepublik: Peking wird langsam zu einem Schmelztiegel der Provinzen. Schon jetzt ist das Zentrum der Republik keine entrückte Kaiser- und Kommunistenstadt mehr, sondern der natürliche Treffpunkt aller Chinesen.