■ Gerhard Schröder hat einen Plan: Die SPD verliert einfach so lange, bis sie wieder gewinnt. Aber was macht Schröder dann?
: Vom falschen zum richtigen Kanzler

Die CDU muss aufpassen, dass sie nicht noch Lafontaine links überholt

Wie viele Wahlniederlagen verträgt der Kanzler noch? Eine, zwei oder fünf? Wie lange noch wird er uns mit dem schlichten Spruch beruhigen wollen, die Regierung werde ihre Politik durchsetzen, weil sie richtig ist?

Man kann darauf nach dem Debakel in Thüringen und Nordrhein-Westfalen eine ziemlich präzise Antwort geben: Bei den Landtagswahlen in Sachsen (19. September) und in Berlin (10. Oktober) gewinnt die SPD nicht mal mehr einen Blumentopf. Aber Gerhard Schröder wird, wie er neuerdings zu sagen pflegt, nicht wackeln. Bei einer weiteren Niederlage in Schleswig-Holstein (Februar 2000) wackelt der Kanzler allerdings, ob er will oder nicht. Geht dann noch Nordrhein-Westfalen (Mai 2000) verloren, fällt Schröder wahrscheinlich um. NRW, das Land, das für die SPD so etwas verkörpert wie ihr Herz und ihre Seele, dieses Land von der CDU regiert? Schröder könnte mit Tony Blair gar nicht so viele Papiere schreiben, wie diese Schmach das Selbstverständnis der Sozialdemokraten erschüttern würde.

Der Kanzler weiß das alles. Deshalb versucht er, seine Niederlagenserie als eine Art geheimen Schröder-Plan auszugeben. Darin opfert er das Saarland, Brandenburg, Thüringen, Sachsen, Berlin, Schleswig-Holstein und die Kommunen in Nordrhein-Westfalen auf dem Altar seines harten Sparkurses. Aber am Ende siegt in Schröders Plan das Gute: Die Bürger lassen sich langsam vom rot-grünen Zukunftsprogramm überzeugen, die wirtschaftliche Lage wird im nächsten Jahr besser, die SPD gewinnt die Wahlen in Nordrhein-Westfalen, die Partei glaubt wieder an sich selbst – und Schröder steht als unbeugsamer Sparkanzler so gut da wie vor ein paar Monaten als Kriegskanzler, wenn nicht noch besser.

Nun muss man angesichts dieses etwas überambitionierten Plans nicht gleich an Grimms Märchen denken.Vielleicht kommt es ja so, wie Schröder sich das ausmalt. Vielleicht behält er in den kommenden Monaten die Nerven. Die entscheidende Frage ist aber eine ganz andere: Was lernt der Kanzler aus den Niederlagen der SPD? Und was macht er, wenn er sie tatsächlich überlebt?

Eine Antwort darauf hängt zuallererst davon ab, ob man Schröder überhaupt für lernfähig hält oder ob man in ihm das eigentliche Problem der rot-grünen Regierung und der SPD sieht.

Schröder hat seine Wahlniederlagen allesamt verdient. Das Chaos zu Beginn der rot-grünen Regierungszeit, ein Kanzler, der ein paar Monate lang glaubte, mit einem Auftritt bei „Wetten dass“ mehr Zustimmung bei seinen Wählern zu finden als mit seiner Politik, ein Regierungschef, der lange von Spaß redete und erst spät die Pflicht entdeckte, das Sommertheater der SPD – viele der Sprengsätze, von denen sich Schröder heute umstellt sieht, hat er selbst gelegt. Dazu kommt sein Glaubwürdigkeitsproblem. Als Sparkanzler macht sich Schröder zur Zeit nicht so gut. Wer seinen Freunden von der Industrie bei Benzinpreisen oder Schrottautos gern einen Gefallen tut, setzt sich dem Verdacht aus, er könne nur bei den Kleinen und Schwachen hart sein. Aber ist Schröder deswegen gleich das ganze Problem, macht ihn das wirklich zum Symbol für die Ungerechtigkeit der Welt?

Anders herum gefragt: Würde man dem Kanzler seine Reden von sozialer Gerechtigkeit abkaufen, wenn er keinen Kaschmirmantel tragen und nicht so oft mit VW-Chef Piäch telefonieren würde?

Das Problem heißt nicht Gerhard Schröder. Schröder heißt eines der Probleme, aber eben nur eines. Es gibt viele davon.

Eine SPD-Linke, die weder Köpfe noch Konzepte hat und sich im Kampf um Symbole wie die Vermögenssteuer verliert. Natürlich kann man über den Sinn einer solchen Steuer streiten. Aber den Linken geht es gar nicht so sehr um die realen Auswirkungen einer Vermögenssteuer. Sie sehen in ihr nur ein Machtmittel, Schröder seine Grenzen aufzuzeigen. Damit nähren sie jedoch weiter die Illusion, dass es mit den Veränderungen schon nicht so schmerzhaft werde.

Ein anderes Problem ist die CDU, die sich im Moment darauf ausruht, sozialdemokratischer als die SPD zu sein. Die Christdemokraten müssen aufpassen, dass sie Oskar Lafontaine nicht noch links überholen.

Und schließlich die Bürger, die eine Sparpolitik prinzipiell für richtig halten, die sich aber immer dann, wenn es ans eigene Portemonnaie geht, in Ausreden flüchten: Nicht in diesem Tempo sparen, nicht bei der Rente, nicht beim Vermögen, nicht mit dem Kanzler.

Die ganze Debatte über den Umbau des Sozialstaats, über soziale Gerechtigkeit und das Sparen leidet ohnehin unter den Klischees, die ihr verpasst werden. Hier Schröder, da Lafontaine, hier Modernisierer, da Traditionalisten, hier Finanzpolitiker, die sparen, da Sozialpolitiker, die alles wieder ausgeben wollen. Über allem schwebt der Kanzler und Parteichef, der die SPD zerstört, ihre Seele verkauft. Und morgen kommt der Weihnachtsmann.

Kann es sein, dass die Wirtschaft in Zeiten der Globalisierung, dass das Ende der alten Arbeitsgesellschaft, dass die neuen gesellschaftlichen Ungleichheiten, dass die Ängste vieler Menschen der SPD (und allen anderen Parteien) mehr zu schaffen machen als Gerhard Schröder? Die Sparpolitik des Kanzlers und seines Finanzministers ist in der Sache richtig, weil sie einen ersten vorsichtigen Schritt wagt, diesen neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Sie beginnt damit, den alten Sozialstaat, der selbst zum Problem geworden ist, weil er schon lange keine Gerechtigkeit mehr schafft, auf eine neue Grundlage zu stellen. Die SPD hat dabei allerdings noch nicht erklären können, worin sich ihr Ansatz von dem der Neoliberalen unterscheidet. Sie drückt sich vor der Debatte, wie viel Ungleichheit unsere moderne Gesellschaft verträgt und ob das alte Gleichheitsversprechen der Sozialdemokratie heute nur noch als ein Prinzip der Chancengleichheit überleben kann.

Was also muss Schröder tun, wenn er die nächsten Wahlniederlagen tatsächlich überlebt? Gewinnen allein reicht nicht. Er muss mehr tun, als standhaft zu bleiben und seine Sparpolitik zu predigen. Er muss erkennen, dass er die Debatte über Gleichheit und soziale Gerechtigkeit nicht beenden kann, sondern sie erst jetzt richtig beginnt. Er muss begreifen, dass es nicht reicht, seine Politik per Machtwort einfach für richtig zu erklären, er muss das Richtige an dieser Politik begründen können.

Ist Schröder für diese Aufgabe der richtige Kanzler und Parteichef? Oder ist er, wie Bernd Ulrich kürzlich im Tagesspiegel feststellte, der falsche Mann, der auf die falsche Weise die richtige Politik macht? Die Frage muss vorerst offen bleiben. Ihre Beantwortung hängt davon ab, was Schröder aus seinen Niederlagen der nächsten Monate lernt.

Viele Sprengsätze, von denen sich Schröder umstellt sieht, hat er selbst gelegt

Dass Schröder kein Sozialdemokrat im eigentlichen Sinne, sondern eher ein geschickter Moderator unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen ist, muss nicht unbedingt ein Nachteil sein. Mit diesem Image hat Schröder immerhin die Bundestagswahlen gewonnen. Manche legen ihm das als Beliebigkeit aus. Selbst wenn es so sein sollte, diese Beliebigkeit hat ihn stark gemacht. Ihr verdankt er seinen Aufstieg und seinen Erfolg. Sie macht Schröder zu einer Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Erwartungen der Wähler, die er je nach Notwendigkeit einfach nur bedienen oder auch beliebig erweitern kann.

Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete diese Parteiferne, diese Unbestimmtheit Schröders als Voraussetzung für den so genannten Begin-Effekt. Nur ein erzkonservativer Premier in Israel wie Menachem Begin konnte 1978 in Camp David den ersten Frieden mit einem arabischen Land, dem bisherigen Feind Ägypten, schließen. Kann jemand wie Gerhard Schröder, in dem nachweislich kein sozialdemokratisches Herz schlägt und den die Partei nicht liebt, einen solchen Begin-Effekt innerhalb der SPD auslösen?

Die Voraussetzungen dafür sind wahrscheinlich besser als bei Oskar Lafontaine, dem erklärten Liebling der Partei. Wenn Gerhard Schröder das gelingt, dann jedenfalls nicht mit dem ideologischen Pathos eines Willy Brandt oder eines Oskar Lafontaine. Es ginge nur mit seinem eigenen moderierenden, unideologischen Stil, bei dem er, wie die Süddeutsche schreibt, überzeugte Sozialdemokraten in Wähler zu verwandeln sucht.

Würde Schröder das schaffen, dann wäre er doch noch der richtige Mann, der auf die richtige Weise die richtige Politik macht.

Jens König