Der Kaukasuskrieg hat die Metropole erreicht

■ In der russischen Hauptstadt gibt es keine Zweifel mehr an der Urheberschaft der Anschläge

Moskau (taz) – Russland befindet sich seit Anfang August im Kriegszustand. Damals überquerten wahabitische Rebellen aus Tschetschenien die Grenze zu Dagestan, besetzten einige Bergdörfer und riefen eine islamische Republik aus. Der Kreml antwortete auf die Provokation wie üblich mit Verzögerung. Das offizielle Russland, das sich in internen Macht- und Verteilungskämpfen im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zerfleischt, schenkte den Vorgängen am Südrand der Föderation nur die allernötigste Aufmerksamkeit.

Der Kaukasus ist Russlands vernachlässigtes, ungeliebtes und verwildertes Kind, das der Kreml aber nicht zur Adoption freigeben will. Die Probleme im Kaukasus sind von Moskau hausgemacht. Warum konnte sich Präsident Jelzin nicht mit dem gemäßigten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow, der in der Bevölkerung hohes Ansehen genoss, im Laufe von drei Jahren verständigen und eine für beide Seiten akzeptable Lösung finden? Und wusste der Kreml etwa nicht, dass die von den Rebellen besetzten Gebiete in Dagestan tschetschenisches Siedlungsgebiet waren, bevor Stalin es ihnen wegnahm?

Nun hat der Kaukasuskrieg die Metropole Moskau erreicht. Drei Terrorakten fielen in zwei Wochen 130 Menschen nach offiziellen Angaben zum Opfer. Die wirkliche Zahl der Toten dürfte doppelt so hoch sein. Dass die Spur in den Kaukasus führt, daran herrschen keine Zweifel mehr.

Die Botschaft der Terroristen ist eindeutig: Wir zielen euch ins Herz, wann immer wir es wollen. Welche Sicherheitsmaßnahmen föderale und städtische Institutionen auch anordnen, der Elf-Millionen-Moloch Moskau lässt sich nicht hermetisch abriegeln. Auch die Verhängung des Ausnahmezustands schüfe keine größere Sicherheitsgarantie. Was wollen die Terroristen am Ende erreichen? Läuft ihr Kalkül darauf hinaus, dass landesweiter Terror alle Kräfte bindet und sie im Kaukasus freie Hand erhalten? Würde die Verhängung des Ausnahemezustandes, die den fragilen innenpolitischen Zustand weiter destabilisert, ihrem Interesse wirklich dienen ?

Nachdenklich stimmt zudem, dass diese beispiellose Welle bestialischer Gewalt über das Land am Vorabend wichtiger Wahlen hereinbricht. Ohnehin bekämpft sich Russlands politische Elite bis aufs Messer. Seit Wochen kursieren Gerüchte, der Kreml arbeite an unterschiedlichen Szenarien, um im Zweifelsfall die Wahlen auszusetzen. Jelzin und der Familienclan befürchten, mit Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow könne ein Mann an die Macht gelangen, der sich an Boris Jelzin rächen und die fragwürdigen Besitzstände der Jelzin-Kinder einer eingehenden Betrachtung unterziehen wolle.

Ohne Verschwörungstheorien wäre Russland nicht Russland. Ein Beobachter der Literaturnaja Gaseta spekulierte schon im August, demnächst „erwarte Moskau fürchterliche Schocks“. Urheber sei die „Familie“, die darauf abziele, den populären „Luschkow zu diskreditieren, indem sie Ereignisse provoziert, die die soziale und psychologische Situation in Moskau destabilisiert“.

Kaffesatzleserei oder Insiderwissen? Dass der Kreml bei den Präsidentschaftswahlen 1996 für den Fall eines ungünstigen Resultats eine alternative Lösung in der Schublade hatte, bestätigte der in Ungnade gefallene Sicherheitschef Jelzins, Alexander Korschakow, wenig später. Sollten die jüngsten beispiellosen Bluttaten eine Machenschaft des Kreml sein? Kaum vorstellbar. Jelzin besitzt genügend politische Erfahrungen, um zu wissen, dass jeder Versuch, an der Macht zu bleiben, ihn damit strafen würde, noch tiefer zu stürzen. Dennoch steht Russland seit gestern vor einer Zäsur. Wird Moskau die Tragödie vielleicht als einen kathartischen Moment nutzen, um endlich Ordnung im eigenen Haus zu schaffen? Klaus-Helge Donath