Ein Krater, wo ein Haus stand

Räumarbeiten am Anschlagsort in Moskau. Wo die Menschen enden, beginnt die Arbeit der Maschinen. Schülerinnen trauern um Freunde  ■   Aus Moskau Barbara Kerneck

Das dritte von mehreren Gebäuden, die auf der Kaschirskoje Chaussee die Nummer 8 trugen, stand nicht direkt an der Fahrbahn, sondern etwas zurückgesetzt, auf einem kleinen Hügel. Heute steht kein Haus mehr auf dem Hügel. In seiner Mitte birgt er einen tiefen Krater, der beharrlich Rauch und Staub absondert. Der Bezirk ist weiträumig von Milizketten abgesperrt. Nur die Krankenwagen, Milizfahrzeuge und die Laster des russischen Ministeriums für außergewöhnliche Vorkommnisse fahren mit weit aufgeblendeten Scheinwerfern durch den Regen. Milizketten sichern auch die schmale Passage von der Straße zum Unglücksort.

Da die schmale Durchfahrt den Hügel hinan führt, ist das Gewimmel der Retter auch von unten her gut zu überschauen: Es wirkt wie ein Zug menschlicher Ameisen. Orange die Abfallbeseitiger, dunkelblau die Milizionäre, heller blau die Leute von der Katastrophenbehörde. Wo die Menschen enden, beginnen die Maschinen. Zwei riesige Schutt- und Staub-Absaugvorrichtungen ragen wie Dynosaurier in den Himmel, daneben ein Mammut-Kran mit gewaltigen Hummer-Schaufeln.

Eine Gruppe von SchülerInnen zwischen 13 und 16 haben kurz vor der Absperrkette Wurzeln geschlagen. Ein leichter Alkoholdunst schwebt über dem verzweifelten Häuflein. „Jetzt machen sie mit ihren Kränen auch noch die letzten kaputt“, stöhnt Sweta, eine weißblonde, für ihr Alter sehr kleine und hagere 15-Jährige mit rot verheulten Augen. Sie und die Hälfte ihrer Freundinnen und Freunde wohnen im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die meisten anderen Freundinnen lebten in dem Haus, das nicht mehr existiert.

Durch die Explosion hat Swetas Leben Schlagseite bekommen. „Wir stehen seit fünf Uhr morgens hier“, sagt sie, „und wir haben alles gesehen: Wie sie die Leichen fortgetragen haben, und dass dabei unsere Klassenkameradin Julka gewesen ist. Sie war gestern Abend besonders lustig, als wir uns von ihr verabschiedeten. Dann haben wir noch einen Freund gesehen, er war 16. Er lebte noch, es hatte ihm beide Beine abgerissen.“ „Warum lassen sie uns nicht mithelfen?“, fragt Irina (16), eine dunkelhaarige Punkerin mit leicht mongolischem Augenschnitt: „Mit diesem Kran töten sie vielleicht im Augenblick unsere letzten Freunde. Wenn man uns und unsere Kumpels rangelassen hätte: Wir hätten jeden Krümel mit den Händen abgeräumt, vorsichtig wie Archäologen.“

Außer den Teenagern hegt kaum jemand von den Umstehenden Misstrauen gegen den Rettungsdienst. „Die Burschen tun, was sie können“, sagt unter Tränen Alexander (42). Er ist (oder war) der Vater einer 20-jährigen Studentin, die im Erdgeschoss dieses Hauses eine Einzimmerwohnung bewohnte. „Jelena war anders als viele Altersgenossinnen“, sagt er: „Sie wollte früh selbstständig sein. Und da sie so ausgezeichnete Studienabschlüsse hatte, sind wir ihr entgegengekommen. Vor der Krise hatte ich ein kleines Geschäft, das es mir ermöglichte, ihr diese Wohnung hier zu kaufen. Ich habe sie eigenhändig für sie renoviert. Gestern war sie noch auf der Datscha. Wir sagten: Bleib doch noch eine Nacht. Aber sie musste in die Stadt zurück. Da hat meine Frau sie begleitet und wusste nicht, dass es zum letzten Mal war. Jelenas Hündchen ist noch bei uns. Wenn sie am Leben wäre, hätte sie angerufen. Ich gehe hier nicht fort, bis ich sie gesehen habe.“

Alexanders Firma ist nach der August-Krise 1998 bankrott gegangen. Schon einmal hatte er von vorn anfangen müssen: als seine Sowjet-Ausbildung als Afrika-Referent und Dolmetscher nach dem Zusammenbruch des alten Regimes nichts mehr wert war. Doch er hoffte auf die neue Zeit. 1991 gehörte er zu den Verteidigern des Weißen Hauses. „Damals sagten unsere Eltern: Die Kinder werden es besser haben, sie werden in Freiheit leben“, erinnert er sich. „Ein paar Jahre später begriff ich, dass das nicht geklappt hatte. Und da dachte ich: Wenigstens mein Kind wird es besser haben. Ich wollte, dass sie ihr Studium im Ausland fortsetzte, um hier bessere Chancen zu haben. Jetzt sehe ich überhaupt nicht mehr, wie man hier überhaupt leben kann“.