Ein altertümlicher Mensch

Theater als moralische Anstalt und Benn als Droge: Will Quadflieg wird heute 85 und nimmt Abschied von der Bühne  ■ Von Ralf Poerschke

Es hat normalerweise immer etwas leicht Hilfloses, Aufgesetztes, Klischeehaftes, von einem „großen alten Mann“ zu sprechen, wenn einer ob seines bis ins hohe Alter sich fortschreibenden Lebenswerks zu würdigen ist. Aber im Falle von Will Quadflieg wirkt die Formel zutreffend, denn wer sonst sollte der große alte Mann des deutschen Theaters sein? Will Quadflieg feiert heute seinen 85. Geburtstag – im Kreise der Familie. Vor fünf Jahren war das freilich noch anders, da konnte der kleine Mann mitfeiern im Thalia Theater, da reichte die Liste der öffentlichen Gratulanten von Helmut Schmidt bis Ralph Giordano, von Peter Turrini über Ruth Leuwerik bis Harald Juhnke, da gab es mit der Hommage Sprachgeister einen Abend von und mit und für Will Quadflieg.

Dieses Jahr ist alles anders, und seit Ende vergangener Woche leuchtet auch jedem ein, warum. Da kündigte Quadflieg, der seit Jahren unter schwerer Arthrose leidet, seinen Rückzug von der Bühne mit Ende dieser Thalia-Spielzeit an, ganz unprätentios und demokratisch in einem dpa-Gespräch. Er wird noch als Tubal in Jens-Daniel Herzogs Inszenierung des Kaufmanns von Venedig zu sehen sein und in Tschechows Drei Schwestern (Premiere: 4. Dezember), mit denen sich gleichzeitig Thalia-Intendant Jürgen Flimm (bis auf weiteres) als Regisseur vom Hamburger Publikum verabschiedet.

Als herausragender Rezitator bleibt Will Quadflieg allerdings weiter aktiv, war dies doch auch in jüngster Zeit, da er seine Rollen immer kleiner wählte, sein Hauptbetätigungsfeld. Theater hat er stets primär vom Sprachlichen her betrieben, und seine Sprech- und Atemtechnik ist wohl nicht viel weniger als legendär zu nennen. „Sprechen heißt Ausatmen“, ist sein Credo. „Bevor ich einen Satz sage, muss ich ihn bedenken und einatmen. Das muss man mit dem ganzen Körper verstehen.“

Will Quadflieg, geboren am 15. September 1914 in Oberhausen, nimmt bereits als Gymnasiast Schauspielunterricht und erhält sein erstes festes Engagement als 1-Jähriger am heimischen Stadttheater. Über Gießen, Gera und Düsseldorf kommt er 1936 nach Berlin, zunächst an die Volksbühne, zwei Jahre darauf zu Heinrich George ans Schillertheater. Eine entscheidende Station: „Allein schon gegen seine mächtige Gestalt musste man sich behaupten, neben ihm war man sonst gar nicht da“, erinnert sich Quadflieg.

Unter der Nazi-Herrschaft wird er zum Star: als Hamlet, Clavigo und Don Carlos – und bei der Ufa. Einer, dem die Frauen zu Füßen liegen, ein Mitläufer, wie er sich selbst nennt, einer, der von den Konzentrationslagern und den dort geschehenden Verbrechen weiß und sich im Unterschied zu vielen seiner Kollegen auch nach 1945 noch daran erinnern kann. Wie kaum einer hat er sich später um Sühne bemüht.

Nach dem Krieg baut Quadflieg in Hamburg die Junge Bühne mit auf, ab 1947 steht er beim Deutschen Schauspielhaus unter Vertrag. Unter Gustav Gründgens erreicht seine Karriere zwischen 1956 und 1962 den Höhepunkt. Als Faust – verfilmt 1960 – erntet er Weltruhm. In den 70er Jahren jedoch droht er, den Anschluss zu verpassen: Quadflieg steht auch für ein klassisches Theater, das überwunden werden muss, und anfangs wehrt er sich. Der Regisseur Rudolf Noelte weist ihm dann den Weg des Neuen, hin zu einem „genauen, psychologisch begründeten Realismus“.

1983 wird Will Quadflieg Ensemble-Mitglied am Thalia Theater, gibt als Nat im Rappaport 1987 ein seltenes Zeugnis seiner komischen Ader und findet sich als König Lear 1992 nach eigenem Bekunden schon zu alt. Die selbstironische Referenz darauf folgt ein Jahr später im Dieter-Wedel-ZDF-Vierteiler Der große Bellheim, in seiner letzten großen Fernsehrolle.

Will Quadflieg ist einer, der sich selbst altertümlich nennt, und nur in diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn er den „moralischen Verfall, die Gott- und Geistlosigkeit und den grenzenlosen Nihilismus der Gegenwart“ beklagt bis geißelt. Er hält es irgendwie doch mit Schiller und dessen Theater als „moralischer Anstalt“. Wobei für Quadflieg die Moral freilich nicht an der Bühnenrampe endet, und das heißt für ihn Engagement für Frieden, Umwelt- und Tierschutz.

Was bleibt, ist eine Art Bennscher melancholischer Pessimismus. Kürzlich hat Will Quadflieg eine CD mit Gedichten von Gottfried Benn aufgenommen. Und für einen, der quasi alles Große (Alte) gesprochen und gespielt hat (außer Brecht), ist damit doch noch so etwas wie ein Wunsch in Erfüllung gegangen. Benns Lyrik habe auf Quadflieg gar wie eine Droge gewirkt. Glückwunsch!