Pfarrer des Rückbaus

Das Kernkraftwerk Rheinsberg: Hybris der DDR, Alptraum von Reinhard Dalchow. In zehn Jahren soll es abgerissen sein – nur wie?  ■   Von Sonja Zekri (Text) und Rolf Schulten (Foto)

taz-Serie „Jeden Tag ein guter Grund für den Atomausstieg“

„Wir fahren von hinten ran“, sagt der Pfarrer, „von vorne sieht man nichts.“ Schwupp! – gibt er Gas, biegt hinter Rheinsberg in einen Waldweg, schaukelt in einem wilden Ritt über staubige Pisten, dass die Tannenzapfen krachen. Lichte Birkenhaine und Kiefernschonungen flitzen vorbei, im Gebüsch blitzen spiegelglatte Seen. Schienen kreuzen den Weg. Reinhard Dalchow brettert die letzte Anhöhe hoch, steigt aus, kriecht wie Winnetou durchs Gebüsch, den Fotoapparat im Anschlag, deutet schräg nach unten: „Das ist es.“

In einer breiten Senke liegt Rheinsbergs Hybris: Seit über dreißig Jahren strahlt hier der einstige Stolz des Realsozialismus. Als das Atomkraftwerk im Mai 1966 ans Netz ging, jubelte die offizielle DDR – Rheinsberg schlug das bayerische Gundremmingen um drei Monate und war zudem der erste sowjetische Exportreaktor. Nun schreibt der Meiler im Landkreis Ostprignitz-Ruppin wieder Atomgeschichte: 1990 wurde er stillgelegt, seit 1995 wird er als erstes Kraftwerk Deutschlands für 800 Millionen Mark abgerissen. In zehn Jahren sollen sich hier wieder Touristen, Fuchs und Hase gute Nacht sagen und das Naturschutzgebiet „Stechlin“, als solches immerhin seit 1937 ausgewiesen, den Status quo ante erreichen – optisch zumindest.

Reinhard Dalchow greift zum Fotoapparat. Still und starr ruht das Werk am See, rundherum Stacheldraht, fleckige Mauern. Auf dem Giebel des Reaktors ragt eine Antenne in den Himmel – „Die“, sagt Dalchow und kichert: „die haben die Russen früher als Wendemarke für ihre Tiefflüge genutzt.“ Was umso kühner war, als der Reaktor nicht einmal von einer eiförmigen Betonkuppel geschützt war. Die rostigen Gleise enden an einem leeren Bahnsteig. Früher stiegen hier 600 Mitarbeiter aus. Kein Mensch zu sehen, ein Käuzchen ruft. Deutschlands ältester Atommeiler ist ein Geisterwerk.

Dalchow könnte zufrieden sein. Mehr als zwanzig Jahre hat er gegen das Werk gekämpft, als Pfarrer in der Nachbargemeinde Menz, als Umweltbeauftragter der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und Leiter des kirchlichen Umweltkreises Menz. Vorsichtig klettert er die Böschung hinab und bemerkt: „Zu DDR-Zeiten war ich hier mit Westjournalisten.“ Schon damals, müsste er sagen. Wer über das AKW berichtet, kommt an Dalchow schwer vorbei, und er weiß das. Erst vor kurzem reiste ein Nachrichtenteam an, wurde aber enttäuscht. Ob er seine Meinung nicht „schärfer formulieren“ könne, fragte die Journalistin. Dann wäre er ins Erste gekommen.

Solange am Ufer des Stechlin noch ein Stein auf dem anderen steht, wird er auch weiterhin Journalisten herführen. Selbst nach dem Abriss werden Spuren bleiben. Zum Beispiel – Dalchow wedelt mit dem Arm Richtung Reaktor –, weil irgendwo dort der „Friedhof“ liege, ein ehemaliges Lager für schwach- bis mittelverstrahlte Abfälle. Der Betonmantel bekam in den Siebzigerjahren Risse, kontaminiertes Wasser trat aus, verseuchte den Boden und wird nach einem Gutachten des Darmstädter Öko-Instituts in den nächsten Jahren den Stechlin erreichen. „Das Werk steht mit den Füßen im Wasser“, hatte Dalchow schon seinerzeit wegen des hohen Grundwasserspiegels gewarnt. „Wer sagt uns“, fragt er, „dass der Reaktor nicht auch Risse bekommt?“ Der soll erst 2003 abgebaut werden.

Nein, Dalchow traut den Verantwortlichen nicht über den Weg. Nicht den Technikern des Kernkraftwerkes, die nun ihren eigenen Betrieb zerlegen, und nicht den Potsdamer Umweltpolitikern. Den jüngsten Störfall im stillgelegten Kraftwerk gab es im Februar – 500 Liter radioaktiv verseuchtes Wasser gerieten beim Reinigen in eine Druckluftleitung. „Am selben Abend haben wir mit dem Referatsleiter aus dem Umweltministerium zusammengesessen“, ärgert sich Dalchow, „glauben Sie, der hat was gesagt?“

Längst ist der Rückbau des Rheinsberger Werkes zum umwelttechnischen Show-Case geworden, zum wirtschaftlichen Profilierungsobjekt gigantischen Ausmaßes. 330.000 Tonnen Abfall vom Bildschirm bis zum Brennstab müssen in den nächsten zehn Jahren entsorgt werden. Vieles kann einfach auf der Kippe landen, doch 30.000 Tonnen strahlender Schrott werden übrig bleiben. 246 Brennelemente sollen noch in diesem Winter ins Zwischenlager Greifswald gebracht werden. Drei von vier Castoren, Typ 440/84, sind bereits beladen. Dalchow piekt in die Luft: „Stehen da in der Maschinenhalle.“ Und ginge es nach ihm, würden sie noch ein paar Jahre auf dem Gelände bleiben. Bitte?

„Ja“, sagt Dalchow, schließlich wolle man der Greifswalder Bürgerinitiative nicht in den Rücken fallen, die seit Jahr und Tag gegen das überdimensionierte Zwischenlager an der Ostsee zu Felde zieht, weil dort nicht nur der Rheinsberger Atommüll, sondern auch strahlender Westschrott versenkt werden könnte. „Da geht es um Solidarität“, sagt Dalchow. Dass Castoren auf dem Rheinsberger Gelände zu einem Rückbau nicht passen, ficht den Pfarrer nicht an. Mit demselben Argument, mit dem die Grünen gegen den Abriss und für den „gesicherten Verbleib“ des Werkes eintreten, plädiert Dalchow gegen den Castor-Transport: Erst muss ein Gesamtkonzept her, dann sehen wir weiter. „Friedlichen Protest“ hat er bereits angekündigt. Aber Rheinsberg ist nicht Dannenberg. „Die Leute hier wollen das Werk loswerden“, Dalchow macht eine Pause, steigt ins Auto, „wegen der Touristen.“

Das gilt nicht für alle, und es gilt noch nicht lange. Als der Pfarrer 1975 seinen ersten Gottesdienst in der Nachbargemeinde Menz feierte, funktionierte der Forschungsreaktor – trotz bescheidener Leistung von 70 Megawatt – als Propaganda-Coup. Er gab Arbeit, verdoppelte Rheinsbergs Bevölkerung, ließ neue Siedlungen entstehen, schaffte Privilegien.

Noch immer ragt der Kirchturm wuchtig aus der Dorfmitte in Menz. Dalchow steigt aus. Achtzehn Jahre war dies seine Gemeinde. Seit er vor vier Jahren erster Umweltbeauftragter der Landeskirche wurde und die zehn Leute pro Sonntag für ein größeres Publikum aufgab, hat er streng genommen kein Hausrecht mehr. Doch die Tür zum schmuck renovierten Gotteshaus steht offen, und drinnen ruhen Erinnerungen: In dieser Kirche hat er die ersten „Umweltsonntage“ gefeiert. Fast 200 Leute aus der Region trafen sich zum Tabubruch mit ganzheitlichem Begleitprogramm: Man informierte sich über Ökogärten und Hausmittel, aß Vegetarisches, trank Holundersaft – und redete über das „riesengroße Politikum“ Atomkraft. Natürlich hatten nicht alle etwas mit der Kirche zu tun. Natürlich notierte die Stasi alle Autokennzeichen. Die Akten der Gauck-Behörde dokumentieren, wie ein eifriger Spitzel Banales in den Stand der Konspiration hob: „Eine Urlauberin stellte die Frage, dass bei ihr Brustwickel Hautausschlag ausgelöst hätten.“ 1978 warnte der MfS-Bericht aus der Kreisdienststelle Neuruppin vor „Angriffen möglicher kirchlicher Kreise“ und „feindlich negativer Umweltgruppen“, verbunden mit „operativ-bedeutsamen Aktivitäten eines Pfarrers“ (taz v. 3. 2. 95). „Damals war Kirche noch etwas Besonderes“, sagt Dalchow.

Als Pfarrer saß er im Kulturbund des SED-Staates und im Wittenberger Kirchlichen Forschungswerk. Aus Westberlin ließ er sich von Rentnern die Natur mitbringen, die hatte er abonniert. „Rentner“, sagt er, „durften ja häufiger fahren.“ Und Pfarrer durften vieles, was ihre Schäfchen in den Knast gebracht hätte. Dalchow hält inne. „Wir waren nicht radikal, nicht wie in Berlin“, sagt er, „das hätte ich den Menschen nicht zumuten können.“

An staatlichen Zumutungen fehlte es dagegen nicht. Man ahnte vieles und wusste wenig: darüber, dass im Umkreis des Werkes das Krebsrisiko für Kinder um 200 Prozent und die Zahl der Leukämien um 100 Prozent höher lag als im Rest der Republik. Dass das Kühlwasser in den Stechlin geleitet wurde und den See erwärmte. Dass es Störfälle gab: In der Frühphase stürzte ein zentnerschwerer Zentrierarm in das mit Uran beladene Reaktorgefäß. Wegen Korrosionsschäden montierte man auf den Reaktor eine „Schutzhaube“, stellte nach dem Anfahren allerdings fest, dass „der gesamte Reaktorraum mit kontaminiertem Wasser gefüllt war“. Immer wieder kam es zu Ausfällen. Die DDR hatte sowjetische Technik gekauft, aber kein passendes Sicherheitskonzept. Nach der Apokalypse in Tschernobyl, wo ein Reaktor vom selben Typ wie in Rheinsberg stand, schritt die Stasi ein: Die Tiefflüge der Sowjets über das Werk wurden unterbunden, Sicherheitsmängel – und Mitarbeiter – schärfer kontrolliert. Nach außen drangen nur Gerüchte.

Zwei Mal kamen in alle den Jahren westliche Anti-AKW-Gruppen nach Menz, einmal aus Kassel, einmal aus Westberlin. Gegen die Schlachten von Gorleben, die Polizei-Hundertschaften und die Wasserwerfer wirkten die Proteste im Osten wie Schattenboxen: Die Perfidie lag darin, dass der Gegner nie zu sehen war.

Umso alarmierender wirkte jedes kritische Wort. Vor allem die kernkraftkritische Studie „Energie und Umwelt“ von 1988 brachte Unruhe. Der Physiker Sebastian Pflugbeil hatte sie für den Bund der evangelischen Kirche in der DDR mit verfasst. Tschernobyl lag zwei Jahre zurück, als Pflugbeil in der Kirche von Menz daraus vortrug, heimlich schmuggelte man das Heft ins Kraftwerk, wo es hitzige Diskussionen auslöste.

Dann kam die Wende, und die Subversiven saßen plötzlich in Regierungsämtern. Pflugbeil, gerade noch Mitbegründer des Neuen Forums, wurde „Minister ohne Geschäftsbereich“ unter Modrow. Und Dalchow, der Öko-Pfarrer, war mit einem Mal geachteter Gesprächspartner des Staates.

„Hier hinten“, sagt er und zeigt mit dem Daumen über die Schulter, „hier hat das entscheidende Gespräch stattgefunden“. Auf der hölzernen Veranda seines Pfarrhauses waren sie damals, 1990, zusammengekommen: der AKW-Cheftechnologe Wolfgang Fiss, Michael Sailer vom Öko-Institut, Pflugbeil und er, Reinhard Dalchow. Da war Rheinsberg schon stillgelegt, wegen der fehlenden Betonschale, der morschen Nähte und aller sonstigen, mit westlichem Standard nicht zu vereinbarenden Mängel. „Eigentlich“, sagt Dalchow, „wollte man das Werk ja wieder anblasen. Für weitere fünf bis zehn Jahre.“ Aber dann kam es zu jenem Treffen auf der Veranda – „auf neutralem Boden“. Während sich die Experten taxierten, habe er danebengesessen, nicht viel verstanden, aber irgendwann begriffen: „Das geht nicht mehr ans Netz.“ Und so geschah es.

Seitdem sind die Kirchen leerer geworden und die Menschen besser informiert. Nur Reinhard Dalchow fühlt sich immer noch wie der Rufer in der Wüste, wenn er mit den Rheinsbergern spricht. „Eine Katastrophe“, sei die psycho logische Situation. „Viele sind so stolz auf das, was sie geschafft haben, dass sie selbst heute die negativen Folgen nicht sehen sehen.“

Im Februar klagte erstmals die Witwe eines Kraftwerks-Mitarbeiters, der mit 48 Jahren an Leukaemie gestorben war, von der Berufsgenossenschaft Hinterbliebenenrente ein. Sie bekam in erster Instanz recht. „Vielleicht denken jetzt ein paar: Warum soll ich denen die Rente schenken? Vielleicht bringt Geld die Leute zum Nachdenken.“