Lebe wild und weiter

Mit „Kids“ hat Larry Clark das Desaster einer Jugend zwischen Aids und Alltag dokumentiert, „Ein neuer Tag im Paradies“ erzählt raubeinig-schön eine Pusher-Story  ■   Von Harald Fricke

In dem Fotoband „Tulsa“ von 1971 gibt es eine sehr intime Drogenszene zwischen drei Teenagern. Ein kaum volljähriges Mädchen sitzt auf einem Bett und setzt sich eine Spritze, während ein etwa gleichaltriger Junge ihr dabei hilft, den linken Arm abzubinden, damit sie die Vene leichter trifft. Alle sind nackt, und der zweite Junge hat eine Erektion, so dass sein Glied sich leicht hinüberbeugt und die Hand fast berührt, mit der das Mädchen die Spritze führt. Sie ist dagegen viel zu sehr damit beschäftigt, die Nadel sauber zu injizieren, als dass sie sich um sein anschwellendes Glied kümmern könnte. Und auch bei ihm weiß man nicht genau, ob er vom Anblick des nackten Mädchens erregt wird oder durch das Drogenritual. Für den außenstehenden Betrachter wirkt das Szenario ohnehin extrem hermetisch, so sehr haben sich die Jugendlichen von der Kamera abgewandt, die sie bei ihrem Tun beobachtet.

Der Mann mit der Kamera war Larry Clark, ein damals gerade 28 Jahre alter und selbst drogenabhängiger Fotograf, dessen Aufnahmen seit den Achtzigerjahren als schwerst authentische Bilderwelt jugendlicher Freiheitsmythen bewundert werden. Sex, Drugs, Rock'n'Roll und Ambivalenzen – you name it. Denn wenn etwas an Clarks Fotostrecken irritierend wirkt, dann ist es nicht der Kult der Übertretung, sondern vor allem die beinahe schon naive Unmittelbarkeit, mit der die Kamera inzwischen Skaterpunks, die sich mit Rasierklingen selbst verstümmeln, ebenso festhält wie früher bumsende Pärchen oder einen blondlockigen Surferboy bei seinem ersten Blowjob, den er von einer Prostituierten besorgt kriegt.

Clark schaut gerne zu und gilt trotzdem nicht als voyeuristisch. Zumindest scheinen Statements wie „Sehnsucht nach Unbekümmertheit“ und sein Wunsch „nach der nicht gelebten Jugend“ den Fotografien eine dermaßen individuelle, psychologisch lesbare Grundierung, wenn nicht gar Würde zu geben, dass sie nicht einmal in den USA unter den Bann der sonst so hysterisch geführten Pornografie-Debatten fallen. In Texte zur Kunst hat Diedrich Diederichsen 1995 über die Fotos von Larry Clark und Jock Sturges (auch er ein Spezialist in Sachen jugendlich befreiter Sexualität) geschrieben, dass Clark der „sympathisierend beteiligte Augenzeuge einer gescheiterten Revolte“ ist, weil er mit seinen Bildern versucht, die Hippieträume der Sixties im White Trash der 70er Jahre auszuleben.

Bei Jugendlichen klingt das anders: „Larry ist o.k.“ soll einer der Skateboarder seinen Freunden erklärt haben, als Clark vor fünf Jahren mit der Arbeit an seinem Filmdebüt „Kids“ begann. Tatsächlich spielte die im Stil einer „Pulp Documentary“ gehaltene Story um Aids im Alltag von New Yorker Jugendlichen mit 15 Millionen Dollar das Zehnfache der Produktionskosten ein. Aus den Laiendarstellern und Darstellerinnen von der Straße wurden Filmstars, Cloe Sevigny wird demnächst in der Verfilmung von Brett Easton Ellis' „American Psycho“ mitspielen, und „Kids“-Scriptautor Harmony Korine konnte letztes Jahr „Gummo“ drehen. Offenbar hat sich dank Clark das „No Future“ der Adoleszenz zum Marktsegment entwickelt. Youth sells, man kennt das aus Werbekampagnen von Calvin Klein.

Daran hat sich auch in „Ein anderer Tag im Paradies“ nicht allzuviel geändert. Ehe man sich in der Geschichte um Drogenkonsum, Drogengeschäfte und Drogentod zurechtfindet, haben sich einem das Gesicht und der Körper von Bobbie (Vincent Kartheiser) bereits tief ins Gedächtnis hineingebrannt. Der Junge ist wunderhübsch, seine Grübchen strahlen fröhlicher, als es Leonardo DiCaprio jemals könnte, und seine Taille bildet hauchdünne Kurven wie bei Kate Moss. Kartheiser hat, was man an beefcakes wie Matt Damon oder „Marky“ Mark Wahlberg vermisst: einen androgynen Sexappeal. Wenn so die Grätsche zwischen den Geschlechtern aussieht, dann ist doch wieder mit den Utopien der Sechzigerjahre zu rechnen. Das gleiche gilt auch für Rosie (Natasha Gregson Wagner), deren schläfriger, herber Charme sich selbst im Heroinrausch zart entfaltet.

Aus dieser Konstellation hätten andere Jugendverfilmer vom Schlage eines Richard Linklater vermutlich elendlange Dialoge über die Liebe und das Leben gemacht. „Before Sunrise“ mit Ethan Hawke und Julie Delpy war so ein altkluges Unternehmen in Sachen Teen-Romantik. Bei Clark bekommt Bobbie dagegen schon im Vorspann das Nasenbein gebrochen, später werden ihm die schmalen Rippen eingetreten. Die Schönheit verblasst mit jeder Sekunde, die der Film in seiner Handlung voranschreitet: Aus dem Speedfreak wird ein Junkie, aus dem Kleinkriminellen ein Killer. Stilisiert zwar, doch niemals anbiedernd ist der Weg aus der Jugend ein Weg nach unten.

Schuld daran sind die Eltern. Zunächst ist da Bobbies leiblicher Vater, der die Mutter schlägt und den Jungen gegen die Wand prügelt. Das reicht als Erinnerung, um ein perspektivloses Leben zwischen Drogen und anderen Kicks zu führen. In eben dieses Outlaw-Dasein tritt mit Mel (James Woods) ein selbst nicht altern wollender Erwachsener, der den Jungen vom kleinen Gelegenheitseinbrecher zum Profi ausbilden will. „Ich bin kein Role Model. Ich bin ein Junkie und ein Dieb“, sagt Mel, und schon schließt ihn Bobbie in sein weit offenes Kinderherz. Was für ihn als New Yorker Straßeneckenabenteuer beginnt, endet allerdings im Showdown zwischen Juweliersleichen.

Für diese rite de passage nimmt sich Clark ungeheuer viel Zeit und Zärtlichkeit. Gemeinsam mit Mels Freundin Sid (Melanie Griffith) bilden Bobbie und Rosie eine Art verdoppeltes Bonnie&Clyde-Pärchen, das mit kiloweise Tabletten quer durch Oklahoma dealt. Vorne sitzen die imaginierten Eltern, von denen die Kinder auf der Rückbank träumen. Selbst die im Leben gerne ausgeblendete Furcht des Vaters, dass der Penis seines Sohnes größer sei als der eigene, findet bei Clark versöhnliche Bilder: Aufgekratzt und angeberisch wedelt Mel mit seiner Zunge, doch Bobbies ist noch länger und noch schneller im Umgang mit pussies. Dann müssen alle lachen, auch die Frauen.

Die Landschaft ist derweil pittoresk, und Mels Cadillac sieht nach echt alter Road-Movie-Schule aus, in die sich auch die Soul-Kneipen mit verdienten Stax-Grössen wie Clarence Carter fügen. Kaleidoskopartig kommen die Images des Fotografen im Blick des Filmemachers noch einmal zusammen. Der Tag im Paradies ist auch ein Resümee aus Clarks Drogenleben: Schon der Soundtrack scheint näher an seiner eigenen Tulsa-Vergangenheit zu sein als an den HipHop-Beats und Gitarrenbrettern dieser Tage. Dass die Leute, denen Mel Pillen verkauft, Rifle-Gun-Nazirocker sind, hängt vermutlich auch mit dem Weg von Woodstock nach Altamont zusammen.

Wie bei seinen Fotos streut Clark alle diese Details und Verweise mehr nebenbei aus. Wo früher einzelne Shots auf Gesten und Haltungen ausgerichtet waren, lässt er nun die Kamera in der Hand von Eric Alan Edwards, der sonst für Gus van Sant filmt, langsam an den Figuren entlang fahren. Damit aber die Bilder auch in aktionsarmen Szenen etwas anderes als wortlose Melancholie unter Laien zeigen, vertraut Clark jetzt nicht mehr nur seiner Intuition fürs Atmosphärische. Statt auf die Unschuld und Überzeugungskraft seiner vormaligen Protagonisten zu setzen, arbeitet er mit professionellen Schauspielkräften, die mehr Broadway als Bronx sind.

Zum Beispiel James Woods, der den Film gleich mitproduziert hat: Als Mel ist er aufbrausend, cholerisch fast in seiner Drogenparanoia und trotzdem immer einen Tick cooler als die elende Wirklichkeit. Über einen Bauchschuss kann der raubeinige Pusher noch lachen, kurz bevor er ohnmächtig wird, und trotzdem spürt der Zuschauer den enormen Schmerz. Oder Melanie Griffith: Sie lebt in der Rolle des alternden Hippie-Chicks ihre emotionale Verletzbarkeit als milde Stärke aus und zeigt dennoch eisernen Willen, auch gegen den eigenen verwirrten Liebhaber. Ohne Sid würde Mel den Jungen auf der Flucht zum Ende am liebsten erschießen; mit ihr müssen beide weiter leben. Ein solches Happy End hätte es vor vier Jahren bei „Kids“ nicht gegeben. Dort sah man zum Schluss die Kamera nach einer Orgie zwischen lauter hingestreckten Kinderkörpern über den Fußboden gleiten. Da war Clark der letzte Überlebende und auf seine Art ein Chronist des jugendlichen Desasters. Über diesen dunklen Punkt in seiner eigenen Biographie ist er mittlerweile hinweggekommen. Das ist vielleicht sogar realistischer noch als seine Liebe zum Verfall. Vor allem aber ist es Liebe. Man wird halt älter, auch die Jungen.

„Ein neuer Tag im Paradies“; Regie: Larry Clark; mit Vincent Kartheiser, Natasha Gregson Wagner, James Woods, Melanie Griffith u.a.; USA 1998, 95 Min.