Generation ohne Eigenschaften

Junge Abgeordnete ohne Einfluss im Bundestag, aber mit Adrenalinüberschuss erfinden sich kurzerhand selbst neu. Soziologe Bude verleiht ihnen die heiligen Weihen der Wissenschaft: Generation Berlin  ■   Von Patrik Schwarz

Der Zuhörer kam zu spät, sein Haar war leicht wirr, und er setzte sich umstandslos auf die Stufen vor der Treppe zum Klo. Welchen Typ Bundesrepublikaner er auch immer verkörperte (und dem Anschein nach steht zu vermuten, dass es sich um einen 68er handelte): So einer gehört jedenfalls nicht zur „Generation Berlin“. Ein Anspruch auf dieses Label lässt sich nur mit Manieren erheben. Überpünktlich, geschniegelt und ordentlich auf Stühlen platziert saßen vielleicht zweihundert junge Berliner in der neuen Parteizentrale der SPD und warteten. Die Zeit hatte drei ihrer Großkritiker für gesellschaftliche Veränderungen geschickt, also musste Bedeutendes vorgehen in diesem Saal. Die Erwartung: Eine neue Generation stellt sich aus. Die selbsternannten „Youngsters“ in der SPD-Bundestagsfraktion hatten junge Menschen, die sie für ihresgleichen hielten, zu Vortrag und Gespräch geladen. Was denn die „Generation Berlin“ sei, ließ sich so ganz auch bis zum Ende des Abends nicht ergründen, doch gestört hat das niemanden. Selbst die Großkritiker dürften auf ihre Kosten gekommen sein. Wo 200 Leute auf einem Fleck versammelt sind, mangelt es schließlich nicht an Begegnungen, aus denen sich trefflich Theorien zum Zustand der Jugend von heute schmieden lassen. Spezifisch deutsch sei die Begeisterung, die eigene Geschichte als Geschichte von Generationen zu erzählen, erklärt Heinz Bude vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Frankreich etwa definiere sich über Großereignisse wie die Revolution, Großbritannien über die Auseinandersetzungen, die das Klassensystem mit sich bringe. Für die SPD-Youngsters erfüllt Bude an diesem Abend die Aufgabe, ihrem Kurs der Schröder-Treue sozialwissenschaftliche Weihen zu verleihen. Bude gilt als Erfinder des Begriffs „Generation Berlin“ mit seinen Assoziationen an Hauptstadt-Flair, Reichstagskuppelglitzer und Neue-Mitte-Karrieren. 36 Abgeordnete unter 40 Jahren sitzen in der SPD-Bundestagsfraktion und kämpfen mit zwei Problemen. Weder sind sie besonders einflussreich, noch sind sie besonders sexy. Ersteres macht ihnen das Leben in der Politik schwer, zweiteres den Kontakt zu den Wählern im Land. Budes Vortrag vermittelt ihnen das Gefühl, Teil eines großen Aufbruchs zu sein. Mit der Idee von der „Generation Berlin“ bietet er ihnen einen Lichtblick in der Ödnis der Ausschussarbeit, eine Identifikation mit der Berliner Republik. Und weil Politiker gewohnt sind, ihr Handwerk für das wichtigste im Land zu halten, können sie sich gleich noch als Speerspitze dieser Generation empfinden. In der großen Mehrzahl verdanken die Youngsters Gerhard Schröder ihre Mandate. Die meisten unterstützen sein Modernisierungsprojekt. Nur ist es so furchtbar aufregend nicht, seine Arbeitszeit damit zuzubringen, dem Chef zuzustimmen – und sei er auch Bundeskanzler. Auch in den Köpfen der Youngsters schwirren die Bilder von Dean, Brando und Che herum, Rebellen allesamt und darum sowohl sexy wie machtvoll. Weil sie diesen Erwartungen kaum genügen können, suchen sie dringend nach einer Erklärung, die ihren Kanzler-Eifer nicht ganz so streberhaft erscheinen lässt. Bude weist zwar ausdrücklich darauf hin, wie stark das Wir-Verständnis einer Generation mit den Impulsen von Revolution und Romantik verknüpft ist. Doch hat er in seinem Gedankengebäude auch eine Formel parat, die den Abgeordneten die Schmach erspart, sich als Anpasser zu begreifen. Es gebe heutzutage „keine Position jenseits von Macht, Wissen, und Geld“, formuliert er, „es gibt keine Alternative, als mitzuspielen“. Die Generation der 68er hätte noch an die Möglichkeit einer grundlegend anderen Gesellschaft geglaubt. Deshalb sei ihr Leitmotiv die Kritik gewesen, die sich auf alles und jeden erstrecken konnte. Bei der „Generation Berlin“ geht es laut Bude nicht mehr darum, „was man für falsch hält, sondern was man für richtig hält“.

Mag sich mancher Alt-Juso über die Banalität eines Pragmatismus à la Schröder erregen, den Youngsters gilt eben Rackern mehr als Meckern. Ob er überhaupt noch Sozialdemokrat sei, wird der jüngste Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider gefragt. „Sicher, sicher“, kommt die Antwort, „ich habe ja auch das Parteibuch.“