Wahrheit, lustiger als Woody Allen

■ Ausstellung, Filme, Vorträge: Zwei Künstlerinnen lassen am Wochenende über das Politische in der Kunst  nachdenken /  Dok-Filmer Farocki kommt

Alles schon bekannt, von den Kopulatinspraktiken der Stechmücke bis zu den Bremsproblemen einer Mondraumfähre. Und dennoch gelingt es dem Dokumentarfilmkünstler Harun Farocki fremdartige Welten voller ungeahnter Dinge zu zeigen. Zum Beispiel Hechelübungen in einem Hebammenkurs oder 27 kunstvolle Varianten des Reißverschlussöffnens bei einem grotesk-preussischen Striptease-Training. Im Filmessay „Leben. BRD“ geht es um virtuelle Welten, Leben aus zweiter Hand, Simulation, jedoch nicht um Hippes wie (wo wir schon mal am Hecheln sind) Cybersex, sondern um die Myriaden nüchterner Lehrstunden, in denen der Mensch nicht lebt, sondern Trockenübungen machen für ein Leben dann, irgendwann mal, später.

Statt postmodern zu theoretisieren, beschränkt sich Farocki auf das Zeigen, unkommentiert. Daddys gucken beim Schwangerschaftskurs hilflos durch eklige Beckenknochen aus braunem Styrophor. Und im Bewerbungstraining lernen die Menschen glatt und nett zu sein, um anschließend im Selbstfindungskurs furchterregend befreit zu zappeln und zu schreien wie abgestochene Schweine. Nach 80 Minuten Katastrophen-Vorbeugung wundert sich der Zuschauer, dass eine Rasse, die ohne vorausgehende Schulung eigentlich nichts mehr hinkriegt außer vielleicht korrektes Nasepopeln, nicht längst ausgestorben ist.

Vier bitterböse Filme von Harun Farocki, die viel lustiger sind als alle Woody-Allen-Filme zusammen, zeigt das Kino 46 im Rahmen der Tagung „Künstler & Alltagspraxis“. Anne Schlöpke und Barbara Thiel, zwei Künstlerinnen des Künstlerhauses, denen seit Jahren die theoretische Fundierung ihres Tuns ein Herzensbedürfnis ist, haben sich gefragt, ob auch die Kunst nur ein Rädchen in Farockis Zurichtungsmaschinerien ist oder der Knüppel der dazwischenschlägt.

Soziologe Odo Marquardt wurde vor 15 Jahren (oder so) viel diskutiert für seine These von der kompensatorischen, therapeutischen Funktion (und er meinte das positiv!) der Kunst in Zeiten des gesellschaftlichen Werteumbruchs und der allgemeinen Verunsicherung.

Auch Tagungsgast Andreas Weber scheint in seinem Vortrag, die Kunst nicht in rebellischer Konfrontationsstellung zur Gesellschaft zu sehen, sondern siedelt sie in deren (hoffentlich nicht Neuen) Mitte an: als Beihilfe zur „Subjektbildung“ (Samstag, 20  Uhr).

Farocki hat ein bewundernswertes Gespür für Lebensprozesse mit hohem Vertrotteltheits-Grad. Fündig wird er etwa in Gameshows und in Werbeagenturen mit ihrem unerträglichen „Seien Sie beim Zähneputzen spontan kreativ und ganz Sie selbst“-Jargon. Da genügt es, die Kamera drauf zu halten, witzigerweise ausgerechnet im „Spätwerk“ „Der Auftritt“ (1996) in radikaler Kunstlosigkeit ganz ohne Schnitt oder fiese Perspektiven. Politische Kunst kommt hier ganz ohne Thesen aus. Aber was ist politische Kunst eigentlich? Wer ist es, der uns einredet, dass alles, selbst der blödeste Farbspritzer auf einer Leinwand, politisch sei, aber jede explizit politische Kunst als platt und minderwertig geißelt. Holger Kube Ventura (Kurator beim Kasseler Kunstverein) wird nach den politischen Interessen hinter den diversen Definitionen des „Politischen“ forschen (Sonntag, 15 Uhr).

Am Sonntag wird Herr Farocki vermutlich live im Kino 46 erscheinen. Da kann man ihn fragen, wie es war, 1978 zusammen mit Hanns Zischler am Baseler Theater Heiner Müller zu inszenieren. Und man kann sich ein Urteil darüber bilden, ob Farockis bissige Gesellschaftsstudien auf tiefer Menschenliebe oder hemmungsloser Misanthropie beruhen. bk

Ausstellung und beide Vorträge im Künstlerhaus, Am Deich 68, umsonst!

Farocki-Filme im Kino 46: 19., 20. und 21. September um 20.30 Uhr