Terror zieht nach Süden

„Operation Wirbelwind“ der russischen Behörden bringt nichts: Neue Bombe fordert 17 Opfer. Allerdings nicht in der russischen Hauptstadt   ■  Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Siebzehn Tage sind seit dem ersten terroristischen Anschlag in der russischen Hauptstadt vergangen, ohne dass die in höchste Alarmbereitschaft versetzten Sicherheitsorgane einen Attentäter gefasst hätten. Stattdessen hinterließen die Terroristen gestern in Wolgodonsk, im Süden Russlands, eine neue Blutspur. Bei der Explosion einer Autobombe kamen mindestens 17 Menschen ums Leben und 115 wurden zum Teil schwer verletzt.

Nach Aussagen des Innenministeriums parkte gegen 6 Uhr früh ein LKW vor einem neungeschossigen Wohnhaus, der Fahrer stieg aus und eine Viertelstunde später detonierte der Sprengsatz. Der Anschlag in Wolgodonsk folgt einem anderen Muster als die Attentate in Moskau, wo die im Inneren der Häuser deponierten Bomben die Gebäude völlig vom Erdboden getilgt hatten. In Wolgodonsk war der Hauseingang verschlossen – eine Maßnahme, die im Rahmen der Sicherheitsvorkehrungen „Operation Wirbelwind“ angeordnet worden war. Womöglich konnte dadurch in Wolgodonsk eine noch blutigere Tragödie verhindert werden. In dem Haus lebten über 400 Menschen.

Präsident Boris Jelzin verfolgt den Terror vom Kremlsitz aus. Kein einziges Mal hat er es gewagt, sich an den Orten des Grauens zu zeigen. Indes ließ er gestern verbreiten: „Wir haben die Kraft und die Möglichkeit, dem Terror ein Ende zu machen.“ Die durch und durch verunsicherte Bevölkerung sieht das inzwischen anders. Dass die Terroristen versuchen würden, Angst und Schrecken auch in die Provinz zu tragen, darüber wurde in den Vortagen des Öfteren spekuliert. Und es ist logisch, sollte es tatsächlich ihr Ziel sein, die gesamtpolitische Lage zu destabilisieren.

Angeblich liegen der Moskauer Polizei seit Mittwoch nicht nur Angaben über die genaue Identität der Terroristen vor; sie soll auch darüber im Bilde gewesen sein, dass sich die Attentäter nicht mehr in Moskau aufhalten. Sollte das tatsächlich der Fall sein, scheint das landesweite Fahndungsnetz Maschen erheblicher Größe zu haben. „Wir haben die Leute, die die Explosion ausgeführt haben, identifiziert“, sagte ein stellvertretender Polizeichef. Es stünde fest, „dass die Anschläge von tschetschenischen Kämpfern verübt wurden“, die allerdings „ Leute mit slawischem Aussehen benutzten“. Beweise brachte die Polizei noch nicht bei. Premierminister Wladimir Putin hatte vorgestern jedoch an der tschetschenischen Fährte keinen Zweifel mehr gelassen: „Es ist eindeutig klar, dass die Terroristen sich auf tschetschenischem Gebiet verstecken.“

Putin forderte die tschetschenischen Behörden auf, die Attentäter auszuliefern. Wenige Stunden später indes detonierte die Autobombe in Wolgodonsk. Offenkundig haben nicht alle Attentäter Zuflucht in der Kaukasusrepublik gesucht.

Putin forderte zudem die mittelasiatischen GUS-Staaten auf, den Kampf gegen islamistische Rebellen gemeinsam mit Russland zu führen. Was in Russland geschehe, sei nur Teil eines Planes, der darauf abziele, „seine Ordnung weltweit zu verankern“.

Boris Jelzin, der inzwischen an allen Fronten in die Defensive geraet, ordnete unterdessen an, Tschetschenien abzuriegeln und alle Transportverbindungen zu kappen. Wird der Plan tatsächlich bis zum Ende verfolgt, käme das einer faktischen Anerkennung der Souveränität Tschetscheniens gleich.

Unterdessen führen die innenpolitischen Kontrahenten in Moskau auf den Trümmer- und Leichenbergen der letzten Wochen ihre Schlammschlachten um die Macht weiter. Spekulationen, die Drahtzieher der Terrorakte säßen in Moskau, brechen nicht ab. Boris Jelzin nebst „Familie“, zu der auch enge Mitarbeiter und der Finanzmogul Boris Beresowski zählen, hätten in der Tat genug Motive, zum Beispiel von den zahlreichen Korruptionsverdächtigungen gegen sie abzulenken. Aber selbst Opfer und beinharte Feinde des Kremlchefs weisen jeglichen Verdacht in diese Richtung zurück. Zudem hätte der Plan das operative Ziel verfehlt: Jelzins Gegenspieler, Moskaus Bürgermeister Luschkow, konnte durch die Attentate sein Image als neuer guter Zar noch ausbauen. Unbürokratisch verteilte er an die überlebenden Opfer neue Wohnungen.

Inzwischen gerät Boris Beresowski trotzdem ins Fadenkreuz der Verdächtigungen. Eine dem Bürgermeister nahe stehende Zeitung veröffentlichte ein mitgeschnittenes Telefonat, das der Finanzjongleur mit dem tschetschenischen Ideologen der islamischen Revolution Mowladi Udugow geführt haben soll. Thema: Finanzierung.