Vorbereitung auf „The Big One“

In Kalifornien bebt die Erde häufig, besonders in der Bay Area um San Francisco. Zwei starke Beben haben dieses Jahrhundert die Stadt erschüttert. Das erste verwüstete sie, das zweite war weniger verheerend, traf den Lebensnerv jedoch schwer. Mit einem weiteren heftigen rechnen Wissenschaftler in den nächsten zwanzig Jahren. Das Leben mit dem Beben schildert   Michael Streck

Jeden Samstag veröffentlicht der San Francisco Chronicle einen Erdbebenreport. Zwanzig Beben werden im Schnitt pro Woche registriert. Meist sind sie kaum spürbar und selten verursachen sie Schäden, nur manchmal fallen Büchsen aus einem Supermarktregal.

Am Nachmittag des 17. Oktober 1989 wurde jedoch das geschäftige Treiben der Stadt am Pazifik jäh unterbrochen, als plötzlich für fünfzehn Sekunden die Erde vibrierte. Das Epizentrum des Bebens mit der Stärke 7,1 auf der Richterskala lag in den Loma Prieta Bergen, hundert Kilometer südlich von San Francisco. Trotz der Entfernung hatten die Erdwellen immer noch eine zerstörerische Kraft, als sie die Stadt erreichten.

62 Menschen starben damals unter den Trümmern eingestürzter Häuser, Highways und auf der Baybridge, der wichtigsten Verkehrsader über die Bucht von San Francisco nach Oakland. Auf der sieben Kilometer langen Doppelstockbrücke stürzten Segmente der oberen Fahrbahn auf die untere Spur. 12.000 Menschen verloren ihre Wohnungen, wochenlang herrschte Verkehrschaos, und der Gesamtschaden betrug über sechs Milliarden Dollar. Verglichen mit dem verheerenden Beben im Jahre 1906 nahmen sich die Schäden jedoch gering aus. Damals hatten eine Erschütterung der Stärke 8,1 und anschließende Feuer die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Die Angst vor einer neuen Katastrophe begleitet die Menschen – in Wolkenkratzern, auf Brücken und in der U-Bahn.

Eine Schnellbahn verbindet San Francisco mit Oakland durch eine Tunnelröhre unter der Bucht. Auf der Fahrt bleibt genug Zeit für Angstfantasien. Stockt der Zug, macht sich eine beklemmende Ruhe breit. Eine junge Frau stellt sich vor, dass Wasser in die Röhre eindringt, wenn sie in der Mitte des Tunnel ist. „Wie würden die Leute fliehen, welchen Ausdruck hätten sie kurz vor dem Tod?“

Alle hier in der Stadt wissen, dass sie auf unruhigem Untergrund leben. Geologisch betrachtet steht San Francisco am Rande der amerikanischen Erdplatte, die hier auf die pazifische Platte stößt. Beide reiben sich aneinander, dabei entstehen Spannungen, die sich in Erdbeben entladen. Sichtbar wird die Bruchlinie zwischen den beiden Platten am San-Andreas-Graben, einem Erdriß, der die Stadt in südwestlicher Richtung schneidet. In der Nähe des Grabens in Menlo Park befindet sich das US Geological Survey (USGS), das wichtigste Forschungsinstitut für Erdbeben an der Westküste.

In einem Raum surren Dutzende alter Seismographen, die Erdbewegungen aufzeichnen. Über 530 Stationen aus ganz Kalifornien liefern ihre Signale hierher über Radiowellen und Telefonleitungen. Längst verarbeiten Computer die Signale, doch von den alten Geräten mit dem vertrauten Geräusch wollen sich die Mitarbeiter nicht trennen, meint PR-Referentin Pat Jorgensen. Sämtliche Schwingungen werden ausgewertet und fließen in Tabellen, Diagramme und Karten. Es gibt Karten, auf denen die Epizentren von Beben markiert sind. Unzählige Punkte ergeben deutliche Linien, die Kalifornien von Nord nach Süd durchziehen – Bereiche hoher Erdaktivität. Häufige Erdbeben entlang dieser Linie sind für Geologen Zeichen, dass sich die Spannungen entladen können. Es gibt jedoch auch sogenannte seismic gaps, blinde Flecken, erklärt Pat Jorgensen. Das sind Gebiete, wo es in den letzten 120 Jahren kaum Beben gegeben hat. Man vermutet, dass diese Lücken früher oder später durch ein schweres Beben geschlossen werden.

Die Wissenschaftler des USGS haben eine Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent errechnet, daß es bis zum Jahre 2020 ein weiteres schweres Erdbeben im Raum San Francisco/Oakland geben wird. Denn direkt im Zentrum Oaklands ist ein solcher „blinder Fleck“ auf der Karte. Präzise und kurzfristige Vorhersagen sind bisher nicht möglich. Selbst wenn sie eines Tages technisch möglich wären, so Geophysiker David Oppenheimer, würde niemand die politische Verantwortung für eine falsche Warnung auf sich nehmen wollen. Zudem wäre die Arbeit des Instituts für immer diskreditiert. Langfristige Prognosen sind jedoch sinnvoll. Wenn die Menschen Zeit haben zu begreifen, dass sie in einer gefährlichen Region leben, können Gebäude modernisiert und Baustandards verändert werden.

Vor allem geht es darum, Häuser und Brücken so zu konstruieren, dass sie einer schweren Erschütterung standhalten. Beim Beben Ende der achtziger Jahre haben moderne Gebäude, auch Hochhäuser, wenig Schaden genommen. Am stärksten betroffen waren ältere Steinbauten, deren Mauern selbst bei geringen Schwankungen rissen. Holzwände dagegen sind flexibler. Besonders unsicher bei Gebäuden sind Erdgeschoß oder Garage, wo die tragenden Wände entweder zu schwach oder zu starr mit dem Fundament verbunden sind. Auch der Untergrund ist entscheidend: In sandigen Böden können sich die Erdwellen ungehinderter ausbreiten als in Gestein. Daher traf es 1989 den Marina District am schwersten, ein künstlich aufgeschüttetes Gebiet in Hafennähe, wo Gebäude wie Kartenhäuser einstürzten.

Doch kein Beben gleicht dem anderen, weiß der Architekt und Ingenieur Edward Panasci, der sich auf erdbebensichere Projekte spezialisiert hat. „Durch das Loma Prieta Beben lernten wir etwas, dass Ingenieure nie zuvor in ihren Entwürfen bedacht hatten. Der Boden bewegt sich nicht nur horizontal, sondern auch auf und ab“, sagt Panasci. Diese senkrechte Bewegung kommt in Bauvorschriften nicht vor, und Ingenieure sind dafür nicht ausgebildet.

Nach 1989 ließen die Stadtväter alle Steingebäude der Innenstadt auf ihre Sicherheit überprüfen. Die Eigentümer wurden verpflichtet, ihre Häuser innerhalb von zehn Jahren bebentauglich zu machen. Aber Panasci betont die Grenzen solcher Mühen. Drei Faktoren sind bei einem Beben unberechenbar: Stärke, Länge und Epizentrum. Ein Gebäude kann noch so intelligent konstruiert sein, wenn einer dieser Faktoren eine bestimmte Grenze überschreitet, wird es beschädigt.

Zerstörungen können sich aber auch positiv auf die Stadtentwicklung auswirken. Lange verlieh ein auf Betonstelzen gebauter Highway der Uferpromenade San Franciscos ein häßliches Gesicht. 1989 teilweise eingestürzt und stark beschädigt, entschlossen sich die Stadtväter, diesen komplett zu demontieren und gestalteten die Wasserfront völlig neu, mit Straßenbahn und Park.

Früher oder später wird „The Big One“ kommen. Die Stadtverwaltung setzt daher auf Vorbereitung. Kostenlos veranstaltet das San Francisco Fire Department Kurse zum Thema Katastrophenschutz. Das Ziel besteht darin, Nachbarschaftsnetzwerke für den Notfall zu bilden. Es werden vor allem praktische Tips vermittelt, wie man sich und anderen nach einem Beben helfen kann. In einer Schule im Mission District erklärt die Trainerin vom Fire Department die drei Grundregeln nach einem Erdbeben: Zuerst Gas abstellen, dann Strom und Wasser, denn oft entstünde mehr Schaden durch anschließende Feuer, als durch das Beben.

Wer sich in San Francisco als neuer Einwohner registrieren läßt, bekommt ein dickes Infopaket zum Thema Erdbeben. Neben den erwähnten Trainingsprogrammen erhält man Adressen von Geschäften, die alles verkaufen, was der Mensch zum Überleben eines Bebens braucht. Mona Skyler leitet das Earthquake Supply Center in San Rafael nördlich der Golden Gate Brücke. In dem Geschäft, das wie ein Outdoorladen aussieht, verkauft sie Pakete mit Wassercontainer, Kocher, Werkzeug, Lampen und Lebensmitteln, aber auch Souvenire vom letzten Beben.

Da bei einem schweren Erdbeben nicht mit schneller äußerer Hilfe gerechnet werden kann, soll man mindestens für drei Tage ein Notpaket im Hause haben. Wer gerne die Deluxevariante für vier Personen bevorzugt, zahlt vierhundert Dollar. Die Standardausrüstung kostet sechzig Dollar. Nach der letzten Statistik sind nur zirka drei Prozent der Einwohner in der Bay Area auf ein Erdbeben vorbereitet . In den letzten Wochen stieg die Nachfrage in Skylers Center. Sie weiß eine Erklärung: Die nahende Jahrtausendwende verbreitet Katastrophenstimmung. Im Computer- und damit Weltchaos könnten sich Solarradio und Nasa-erprobte Büchsennahrung als nützlich erweisen.

Mona Skyler bietet auch Seminare an, ähnlich wie die vom Fire Department. Nur sind ihre auf die Bedürfnisse von Unternehmen zugeschnitten, wird doch das nächste Beben bereits „Lawyers' Earthquake“, das „Beben der Anwälte“ genannt. Firmen sind gesetzlich verpflichtet, für die Sicherheit ihrer Angestellten zu sorgen. Wird eine Person zum Beispiel verletzt, weil Gegenstände nicht richtig befestigt waren, könne sie den Arbeitgeber auf Schadenersatz verklagen.

Es gibt jedoch Menschen, die warten gespannt auf das nächste große Beben und hoffen, dass sie es noch erleben. Denn grau ist alle Theorie und was für Chemiker Laborversuche sind, ist für Seismologen ein kräftiges Beben. Außerdem machen sie Spaß, meint Seismologe Allan Lindh vom USGS. Wenn Leute sich während eines Bebens sicher fühlen, so Lindh, hätten sie Spaß und würden sich ihr ganzes Leben lang an ein aufregendes Ereignis erinnern.

Erdbeben sind für Lindh keine schrecklichen Ereignisse. Er betont vielmehr ihre schöpferische Kraft auf unserem Planeten. Den Energien aus dem Erdinnern verdankt San Francisco schließlich seine spektakuläre Topographie auf der schmalen Landzunge zwischen Pazifik und Bay. – Und wie geht es Fremden in San Francisco? Sie sind froh, es ohne Katastrophe überstanden zu haben. Aber sie sind auch traurig, kein Bebenerlebnis – nicht mal ein leichtes Zitttern – mit nach Hause zu nehmen.

Michael Streck, 31, arbeitet als freier Journalist für Hörfunk und Presse in Berlin