„Mich interessiert jetzt mehr der Dax“

Nach der Wende hat es viele DDR-Bürger nicht mehr in Europa gehalten. Sie suchten ihr Glück in den USA, ihrem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Einer von ihnen ist der Fotograf Albrecht Gerlach, 24 Jahre. Seine Lebensgeschichte, aufgezeichnet von Andreas Lehmann

Ein paar Mauerstückchen waren das einzige, was ich hier aus dem Osten noch besaß. Die traurige Sache ist, als wir letzten Sommer in Amsterdam gewesen sind, da hatten wir die mit. Irgendjemand brach in unser Auto ein und klaute unsern ganzen Kram. Da waren auch die Mauerstückchen dabei. Eine Woche nachdem die Mauer gefallen war, habe ich meine ersten paar tausend Westmark als Mauersteinverkäufer verdient. Vor allem amerikanische Touristen haben die gekauft. Lief wunderbar. Hammer und Meißel, Mauer kloppen – nach anderthalb Monaten hatte ich drei- oder viertausend Westmark. Ein Riesendeal, ich hatte mehr Westgeld als meine Eltern. Danach hat das Geldverdienen Spaß gemacht.

Ich bin in Berlin-Karlshorst groß geworden. So mit fünfzehn, nach der Schule, fing ich an zu fotografieren. Richtig als Hobby habe ich eigentlich nie fotografiert, sondern nur als Job. Wollte Reportagen aus Kriegsgebieten machen, so was in der Art jedenfalls. Und das lernt man im Prinzip nur durch Erfahrung. Ich habe also als freier Fotograf in Berlin gearbeitet, hauptsächlich für „Springer“. Irgendwann verkrachte ich mich mit einem von der BZ. Da wollten die mir keine Aufträge mehr geben, ich dachte: Ach, du Scheiße.

Eine Paparazziagentur, „Splash“ aus L.A., suchte irgendwann Leute, die für sie arbeiten. Aber diese Agentur nahm mich nicht. Hm, Kacke. Dann war ich so stur, dachte ich, ich gehe trotzdem hin. Werden schon sehn, was sie davon haben. Wenn die mich nicht wollen, mache ich es eben selber. Nach drei, vier Monaten hatte ich so zwanzigtausend Mark zusammen und bin damit nach L.A. geflogen. Mit meinem ganzen Kram, war ja nicht viel, hauptsächlich Kameras. Bin aus'm Flugzeug gestiegen, gleich ins Taxi und sage zu dem Fahrer: „Fahr mich zu 'nem Gebrauchtwagenmarkt.“ Habe ich mir am selben Tag ein Auto gekauft, Gebrauchtwagen für viertausend Dollar, weil ohne Auto kannst du hier ja gar nichts machen. Die Nacht im Hotel geschlafen, am nächsten Tag, ein bisschen zu voreilig, mir eine Fünfhundertdollarwohnung gesucht und nach Hollywood gezogen. Was ein Fehler war, weil, das ist da eine sehr verranzte Ecke. Direkt vor der Tür wurden Drogen verkauft, nicht so toll.

Ich bin erst zur L.A. Times gegangen, aber die waren alle so arrogant. Mappe gezeigt, sagten die: „Ja, okay, wir haben aber schon fünfzig Fotografen.“ Bei Allsport – die fotografieren für hochqualifizierte Sportmagazine – gaben sie mir dann ein assignment: Tennis, Michael Stich. Bei diesem Tennisturnier traf ich ein paar andere Fotografen. Der eine arbeitete ab und zu paparazzimäßig für einen Franzosen. Dort fotografierte ich Christopher Lambert, der saß in der audience mit seiner Tochter. Okay: Die Tennisbilder brachten 250 Dollar, die Lambert-Fotos zweitausend. Wow!

Tennisbilder hinzukriegen ist richtig schwer, du musst dich konzentrieren. Bei Christopher Lambert drückst du einmal drauf, das reicht. Da bin ich dann auch zu diesem Franzosen gegangen, der hat die dann verkauft und mir fünfzig Prozent des Erlöses gezahlt. War doch super. Mit dem habe ich ein Weile gearbeitet, der gab mir ein paar Infos und Adressen von Promis in L.A., und ich bin den Leuten dann den ganzen Tag hinterhergefahren, habe fotografiert, und er verkaufte die Bilder. Ich habe im Endeffekt nur die Hälfte der Geldes bekommen. Irgendwann habe ich mir gesagt, das kann ich alles auch selber machen.

Es läuft jetzt so: Ich habe vier Angestellte, die sind selber nicht unbedingt die besten Fotografen. Aber um den ganzen Tag irgendwo im Auto zu sitzen und zu gucken, muss man nicht der Superfotograf sein. Eigentlich kann jeder ein scharfes Bild hinkriegen. Mit anderen Paparazzifotos verglichen, liefern wir immer gute Qualität. Von uns gibt es keine unscharfen Sachen, wir haben den Ruf, dass unser Zeug gut ist. Hier laufen tatsächlich Fotografen rum, die wissen noch nicht mal, wie man eine Kamera hält.

Mit Fernsehleuten machen wir viel Geld. Zum Beispiel mit Leuten aus der Show „Friends“, die ist ja nicht bloß hier eine der erfolgreichsten Shows, die läuft auch in Australien und in England. Schauspieler aus „Friends“ verkaufen sich besser als moviestars. Weil die ganzen Leute, die die yellow press outlets lesen, die gucken halt jeden Tag Fernsehen, aber gehen nur alle halbe Jahre ins Kino. Wir hatten neulich langweilige Fotos von Jennifer Aniston, einfach aus dem Supermarkt, mit Einkaufstasche in der Hand. Einer meiner Leute wiegt bestimmt zweihundert Kilo, ist so breit wie ein Esstisch. Der ist gut, macht, was man ihm sagt. Wir waren im Supermarkt, der hat mich hochgehoben, und ich habe über ein Regal hinweg das Foto von Jennifer Aniston geschossen. Damit haben wir allein in Australien fünftausend Dollar verdient.

In letzter Zeit lief es ansonsten gar nicht so toll. Wir waren zum Beispiel zwei Wochen in Aspen, Colorado, und da war wirklich außer Spesen nichts gewesen. Das einzige, was wir gekriegt haben, war Gottschalk. Der hat für uns sogar noch schön posiert. Aber Gottschalk kann man ja nur in Deutschland verkaufen.

Meine größte Geschichte war Madonna mit ihrem Baby. Das war halt so eine Sache, von der man schon ein paar Wochen vorher wusste. Wir haben einfach auf gut Glück die Nachbarn gefragt, ob sie uns ihr Haus vermieten würden, weil wir wussten, das wird eine Riesengeschichte. Einer meinte dann: „Klar.“ Ein Fotograf war vor uns da, der hatte aber nicht genug Geld geboten. Haben wir es halt gemacht.

Das Ding lief so: Der Typ wohnt neben Madonna. Sein Haus war im Prinzip drei- bis viermal so groß wie Madonnas Haus, bestimmt eine Fünfmillionendollarvilla. Der hatte den ganzen Tag nichts zu tun und meinte, er könne Madonna nicht leiden, weil sie sich über seine Papageien aufrege. Das war so ein Nachbarschaftskrieg. Vor zwanzig Jahren hatte er sein Haus schon mal als location für eine Serie vermietet, und die hatten ihm fünftausend Dollar pro Tag bezahlt. Da habe wir ihm also gesagt, wir zahlen die auch pro Tag. Am zehnten Tag hatten wir dann das Foto, Madonna und ihr Baby. 180.000 Dollar haben wir damit verdient. Ich weiß gar nicht, ob diese Geschichte das meiste Geld gebracht hat, aber es hat uns auf jeden Fall sehr viel Anerkennung in Paparazzikreisen gebracht.

Nicht fotografieren würde ich Sachen, die sich nicht verkaufen, wo ich weiß, das wird sowieso nicht gedruckt. Im Zweifelsfall immer fotografieren, macht man es nicht, kann man sich später ärgern. Was die Diana-Sache betrifft, sowas kommt natürlich auf die Situation an. Wenn man der einzige Mensch am Unfallort wäre, ist logisch, dass man erst mal hilft.

Aber in so einer Situation, wo dann sowieso Krankenwagen, Polizei, alles da ist – klar, warum nicht. Kann erst mal nichts schaden, ein Film kostet vier Dollar. Kann man nicht viel verlieren. Ich glaube, da hätte jeder Fotograf draufgehalten. Ich habe selber schon Leute fotografiert, bei Unfällen, wo Leute gestorben sind. In Berlin, als ich noch für Bild oder Super gearbeitet habe. Das war keine Frage. Das waren News, man wollte das sehen, die Zeitung will es haben, und wenn man gerade mal da ist, fotografiert man auch. Mir ist ziemlich egal, was die Leute dazu sagen. Die Leute, die sich darüber aufregen, haben sowieso eine Doppelmoral. Auf der einen Seite kaufen sie sich Bild, auf der anderen Seite erzählen sie irgendwas von Moral. Und selbst wenn die Leute sich die Bild nicht kaufen, interessieren tut sich dafür jeder, es sei denn, man geht nie ins Kino und sieht nie fern.

Im Moment bin ich ziemlich unter Druck, weil ich die ganzen Angestellten habe. Ich muss im Monat mindestens zwanzigtausend Dollar verdienen, nur damit alle Kosten gedeckt sind. Bei sieben Autos – für mich und meine Angestellten –, da geht immer mal was kaputt. Wenn ich nicht arbeite, schlafe ich. Man muss, wenn einem die Firma gehört, härter arbeiten als alle anderen. Es ist ja so, dass ich das Risiko trage, aber auch den Reibach mache. Angestellte kapieren das oft nicht. In deren Augen muss man jeden Tag mehr arbeiten, damit man eine Legitimation hat, um sagen zu können: „Ja, ich arbeite mehr als du, deshalb kriege ich auch mehr.“

Ich war vierzehn, als die Mauer fiel; ich habe vielleicht sieben, acht Jahre Erinnerung an die DDR, das ist nicht viel. Heimat ist für mich da, wo man gerade ist. Ich fühl mich jetzt hier mehr zu Hause als in Deutschland. Ich arbeite dafür, mein Haus und die Autos abzuzahlen, eine Familienexistenzgrundlage aufzubauen. Obwohl ich das Haus wahrscheinlich wieder verkaufe. Das ist so ein Reihenhaus, man hat gleich einen Nachbarn rechts und links, die Lage ist relativ teuer. Ich will wahrscheinlich lieber woanders hinziehen, wo ich ein größeres Haus für dasselbe Geld kriegen kann.

Hier in Santa Monica ist die Lage gut, der Strand ist sehr dicht, aber da geht man nie hin. Das Wasser ist immer kalt und dreckig. Und ich habe sowieso keine Zeit. Ich würde lieber ein Haus mit einem richtigen Grundstück und Pool haben, als hier in dem kleinen Haus in der Nähe vom Strand zu leben. Zweieinhalb Schlafzimmer, drei Badezimmer, Wohnzimmer, Küche, Garage unten, insgesamt nur 1.500 square feet, über drei Etagen und relativ schmal, ist nicht so toll.

Im Sommer ist es unten normal und oben total heiß, im Winter unten saukalt und oben normal. 350.000 Dollar hat es gekostet, aber für so viel Geld würdest du ein Stückchen weiter in den Hügeln ein Superhaus kriegen. Im Endeffekt ist jedenfalls wichtig, was hier passiert, mein Leben spielt sich hier ab. Es interessiert mich mehr, wie der Dax steht, als das, was in Karlshorst passiert.

Andreas Lehmann, 35, arbeitet als freier Autor in Berlin. Der gekürzte Text ist seinem Buch „Go West! Ostdeutsche in Amerika“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1998, 256 Seiten, 29,80 Mark, entnommen