„Ein älterer Mensch hat mehr Autorität“

■ Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, hofft, dass ein Mitglied der Shoah-Generation zum neuen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt wird

taz: Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in München, Charlotte Knobloch, hat sich um die Nachfolge von Ignatz Bubis als Präsidentin des Zentralrats der Juden beworben. Welche anderen Namen sind im Gespräch?

Andreas Nachama: Keine Ahnung.

Wirklich?

Dazu wird es in den nächsten zwei, drei Monaten keine Klarheit geben, da die neuen Präsidiumsmitglieder, aus deren Kreis der Präsident gewählt wird, selbst erst Mitte Dezember alle bestimmt sein werden. Im Augenblick ist eine Antwort auf die Frage eine doppelte Lotterie, aber ein nettes Gesellschaftspiel.

Hat Frau Knobloch als Frau überhaupt eine Chance?

Ob Frau oder Mann, das spielt für mich überhaupt keine Rolle. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert sollte dies für niemanden eine Rolle spielen. Außerdem müsste jeder in der jüdischen Welt spätestens seit den 60er Jahren durch die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir wissen, dass Frauen qualifiziert sind.

Im Gespräch ist Salomon Korn, der zum Vorsitzenden der Frankfurter Gemeinde gewählt wird.

Knobloch gehört der Shoah-Generation an. Wenn keiner aus dieser Generation es macht, dann kommen auch Leute wie Korn aus der Kinder-Generation nicht an der Verantwortung vorbei. Ich hoffe aber, dass jemand gewählt wird, der/die die Shoah noch erlebt hat. Ein älterer Mensch hat in diesem Gremium der Vorsitzenden mehr Autorität.

Auch Paul Spiegel, Vorsitzender der Nordrhein-Gemeinden, wird oft genannt.

Spiegel gehört zur Shoah-Generation, aber es können sich aus dieser Gruppe auch noch Leute bewerben, die noch nicht im Präsidium sind und vielleicht erst im Herbst hineingewählt werden. Aber keiner wird das freiwillig machen: Alle bisherigen Präsidenten bzw. Vorsitzenden sind im Amt gestorben – das ist nicht gerade eine besondere Aussicht. Für Spiegel wie für Knobloch spricht, dass sie beide viel Erfahrung im Führen von Gemeinden haben.

Würden Sie es machen?

Ich bin nicht im Präsidium und habe mich schon zweimal vergeblich darum bemüht hinein zu kommen. Ich bin eben in religiöser Hinsicht zu liberal für dieses Gremium. Ich werde auch noch ein drittes, viertes Mal kandidieren – ohne große Aussicht, hinein gewählt zu werden. Wenn ich ins Präsidium käme und kein geeigneter Kandidat zur Verfügung stünde, dann müsste ich mir die Frage neu stellen.

Nach dem Tod von Bubis und der Trauerfeier in Frankfurt scheint eine Diskussion über den Antisemitismus in der deutschen Politik zu entstehen. Das Präsidiumsmitglied Michel Friedman hat in einem Interview der Bundesregierung vorgeworfen, die Nazi-Vergangenheit zu verdrängen. Teilen Sie seine Kritik?

Das könnte ich für jede Bundesregierung in den letzten fünf Jahrzehnten für manche Augenblicke in ihrer Zeit zuweilen bejahen, zuweilen verneinen. Denken Sie nur an die ewigen Diskussionen um die Verjährung von Nazi-Verbrechen in den 60er-Jahren. Immerhin: Ich bin sicher, Herr Schröder würde nicht wie damals Helmut Kohl zum Soldatenfriedhof in Bitburg fahren, wo auch Gefallene von der Waffen-SS lagen. Altbundeskanzler Kohl war nicht in Frankfurt zur Gedenkfeier für Bubis, CDU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble dagegen schon.

Friedman hat auch gewarnt, es gebe Ansätze für eine linke Schlussstrich-Debatte.

Schlussstrich-Debatten gibt es seit der Diskussion um die Wiedergutmachung in den 50er-Jahren. In allen Parteien gibt es Verfechter des Schlussstriches.

Nennen Sie mal Namen.

Ach wissen Sie: Das ist leichter an Beispielen bei einzelnen politischen Fragen festzumachen. Die Zunahme der Zahl von Verfechtern eines Schlussstrichs verfolge ich seit Jahren, nicht erst seit 13 Monaten.

Friedman beobachtet einen subtilen Antisemitismus, zum Teil auch in der politischen Klasse. Stimmt das?

Einen wirklichen Antisemitismus als gesellschaftliche Bewegung wie in der Weimarer Republik oder im „Dritten Reich“ gibt es in der Bundesrepublik nicht. Aber es gibt antisemitische Schwingungen und Einzeltaten: Etwa das Attentat auf Galinskis Grab oder die Zunahme von juden- und ausländerfeindlichen Erscheinungen im Berliner Umland in letzter Zeit. Und manchmal brechen antisemitische Muster auf, wie etwa bei der Bubis/Walser-Debatte. Aber es gibt antisemitische Tendenzen, Äußerungen und Straftaten. Es ist unsere Aufgabe, sie zu bekämpfen. Ignatz Bubis hat dies in hervorragender und beherzter Weise getan. Interview: Philipp Gessler