Tragik in der Lach-Bar

Gutwillig gescheitert: Hans-Ulrich Becker inszeniert Bar- lachs „Armen Vetter“ im Thalia  ■ Von Ralf Poerschke

„Zum guten Teil bin ich persönlich der ,arme Vetter'... wenn ich auch ohne Brustschuß über diese Jahre hinwegkam“, notierte Ernst Barlach am 18. Juni 1929, ein Vierteljahrhundert nach seiner schwers-ten Krisenzeit, die er Verse schreibend wie ein „fliegender Holländer“ rund um Hamburg verbrachte, in sein Tagebuch. Aber von seinen mehr oder eben weniger stark ausgeprägten suizidalen Tendenzen muss man rein gar nichts wissen, um in dieser heldenhaft-jammervollen Existenz des Dichters Alter Ego zu erkennen: Ein eitler Außenseiter, ein blasphemischer Gottsucher, ein Missionar in eigener Sache mit wenig Sinn für plakative Außenwirkung ist Hans Iver, ein Widerspruch auf zwei Beinen, den der Ekel an der (satten, reichen) Welt an Ostern zum Äußersten treibt und der nicht wiederauferstehen wird.

Vielleicht sollte aber Ernst Barlach an diesem Abend im Thalia Theater wiederauferstehen, Spielzeiteröffnungen atmen ja mitunter etwas Feierliches. Der Bildhauer und Zeichner Barlach tourt gerade mit einer großen Ausstellung durchs Baltikum, als „Artist of the North“; das Nordische als künstlerische und kunsthistorische Kategorie will hier festgeschrieben werden – respektive das Norddeutsche, das viele patriotische Norddeutsche gerne als das bessere Deutsche verstehen, und so geht es bei derlei Barlach-Rezeption letztendlich doch irgendwie um die diffuse Wesenhaftigkeit des Deutschen. Solch tümelnder Intention ist der Regisseur Hans-Ulrich Becker, der mit Der arme Vetter nun sein Debüt am Thalia (und überhaupt bei uns im Norden) gab, freilich nicht zu verdächtigen. Ihm geht es um etwas ganz anderes, doch das dünkt auch irgendwie wesensmäßig: Mutmaßlich will Becker diesem paradoxen selbstironischen Pathos Barlachs, dieser skurrilen Humorhaftigkeit im Bitterernsten, dem „Lachbaren“ (Barlach) des Dramatikers zu einem zeitgemäßen Bühnenrecht verhelfen. Wie kläglich ist das gescheitert.

Es ist kein Trost, aber: Das Scheitern fällt auf Barlach selbst zurück, denn sein Hauptfiguren-Dreigestirn ist beinahe hoffnungslos unmotiviert: Warum konkret will sich Hans Iver das Leben nehmen. Warum misslingt es ihm anfangs, und warum klappt es am Schluss wie von selbst? Was ist so Explosives im Sagen und Tun von Iver, dass die kurz vor der Heirat stehende Lena Isenbarn ihrer bürgerlichen Existenz entsagt und ihren Bräutigam verlässt? Was ist ebendieser Siebenmark für ein Mensch, dass sich sein kühler Geschäfssinn derart erhitzt, daß er am Ende Iver eigenhändig getötet hätte? Das steht nicht im Stück, denn es handelt sich um nichts weiter als Archetypen, die der Absicht des Autors mit unhandlichen, bisweilen hochtrabend poetischen Rätselsätzen Ausdruck verschaffen. Vor allem Susanne Wolff liegen sie oft quer im Hals, Achim Buch flüchtet sich als Siebenmark in anfallsweise Exaltiertheit, derweil Martin Rentzsch seinen Iver immer nahe am Abgrund der Unglaubwürdigkeit entlangführt. Alle drei bleiben dem Publikum emotional fremd, kein Sympathie stellt sich ein und keine Antipathie. Der Regisseur und seine Dramturgin (immerhin fleißig: Regina Guhl) werden es irgendwann aufgegeben haben, den Protagonisten menschelnde Leichtigkeit einzuflößen – es hilft nämlich rein gar nichts.

Umso lebensnah-lebendiger fällt da die gesamte Nebenfiguren-Riege in diesem seltsamen Wirtshaus, dieser Lach-Bar aus, die Barlach als bodenständigen Kontrast benötigte, und sie ist ihm ja auch prächtig und drall gelungen. Und auch Becker beweist großes Geschick bei dessen Einsatz und Besetzung: Rainer Bock als heruntergekommener, zynischer Ex-Schulmeister Voss, Christoph Tomanek als gutherziger, verängstigter Chemiker Engholm, Eva Schuckardt als die dauernotgeile Frau Keferstein, Björn Grundies als die transvestitische, bösartige Frau Venus, Lothar Rehfeldt als besoffen polternder Schiffer Griewank. Seine Beweisführung dessen, daß Gott nicht allmächtig ist, ist der frühe Höhepunkt der Inszenierung.

Ihr paradigmatischer Tiefpunkt ist erreicht in der vorletzten Szene. Iver liegt tot auf einem Gummiboot, Isenbarn beweint die Leiche, und Siebenmark will sie närrisch ins Leben zurückholen: Er springt auf das Boot, der schlaffe Körper hüpft lächerlich auf und nieder. Dieser Regieeinfall ist so brillant wie monströs, das Tragische und das Komische fallen in eins, allein will sich beim Zuschauer weder kathartisches Lachen noch Rührung, noch Beklemmung einstellen. Die Szene bleibt hohl wie das ganze Stück mit seiner verschroben konstruierten Moralität. Beckers Regie erweist Barlach im Grunde einen Bärendienst: Sein guter Wille, ihn für die Gegenwart konsumierbar zu machen, deckt die Schwächen des Dramatikers erst recht auf, mit seiner helfenden Hand legt er gleichsam fünf Finger in die klaffende Wunde, welche gerade der Arme Vetter darstellt. Und das musste ja nun wirklich nicht sein.

21. und 22. September, 26. und 27. Oktober, 20 Uhr