Ausschweifungen trotz Silberbordüre

■ Die jungen Bremer Chung und die alten Fugazi aus Washington lärmten im Schlachthof

Am richtigsten ist Hardcor im Wehrschloss. Vor 20 Gesichtern, am besten pockennarbig. Soll ja nicht Kult, Mode, In oder so ein Getuezeugs sein. Aber wenn Fugazi über den großen Teich schwimmt, treten sich die Leute bis in die obersten Aussichtsterrassen der Kesselhalle auf Füße und Bierbecher.

Das taten 5.000 Leute, so ungefähr. Zur Freude der Bremer CHUNG. Die war Vorband und konnte es vermeiden, das bei Beginn der Hauptbanden just jener Gedanke die Köpfe befiel, der das in solchen Situationen wohl am häufigsten tut. Er lautet: „Sind eben doch fiter, die großen Stars.“ Statt dessen dachte man bei CHUNG vielleicht: „Ts, diese neuen Kleiderordnungen. Schlaghosen und Polyesterhemden mit Silberbordüre.“ Dafür sah die Fender Deluxe des Sängers trotz ihres Namens so aus, als hätte sie ein Pferd am Lasso durch die Steinwüste geschleift. Apropos Wüste. Hardcore entsteht vermutlich immer dann, wenn überhitzte Sänger keinen Atem (oder keine Lust) haben, um einen anständigen Melodiebogen zu ziehen. Der Sänger von CHUNG zeigte sich beim Zerhacken von Liedgut und beim Setzen von Pausen besonders variabel. So wirkten seine Beiträge eher wie Zwischenrufe, Einfügungen, manchmal auch wie Ausschweifungen, denn wie eine durchgehende Führungslinie. Seine Töne klingen oft so, als würden sie in der Intervallordnung der Musiklehrbücher nicht auftauchen, aber dennoch niemals daneben treffen.

Beim Schlagzeuger fällt auf, dass er sich zu Stückbeginn oft für eine eher kleine Gruppe seines Trommelvorrats entscheidet und diese Entscheidung nur sehr gelegentlich revidiert. CHUNG macht eben keine Erbsenzähler-Musik, deren Qualität abhängt von der nackten Anzahl der klanglichen oder rhythmischen Wechsel, sondern von deren Reinhau-Potential. Lieber weniger und dann richtig.

Auch Fugazi können natürlich die Brüche in ihren Liedern voll auskosten. Vor allem aber dürfte Ian MacKaye einer der wenigen sein, bei dem eine gewisse Weinerlichkeit nicht schwach wirkt. Ganz davon zu schweigen, dass er die für das Genre eher untypische Fähigkeit besitzt, Intensität durch Leiserwerden - und Schweigen - zu erzeugen. Auch Brachialität muss fein austarriert sein. So fein wie die CHUNG-Silberbordüre. Und seine Melodiengestaltung hat oft viel zu tun mit dem Ausheben von Gräbern. Er harkr, bohrt und schaufelt manchmal so oft in einen Ton oder eine kleine Tonfolge hinein bis plötzlich ein großes, feierliches, trauriges Loch da ist. Viel „Haltung“ war an diesem Abend erkennbar: Der eine beugt sich krumm übers Mikro, als dürfte kein Fremder zwischen ihn und seine Musik treten. Ein anderer grätscht die Beine auf dass ihn nichts mehr umwirft. bk