Schröders Liebling

Einen Hoffnungsträger hat die sächsische SPD noch: Wolfgang Tiefensee, Oberbürgermeister von Leipzig  ■   Von Robin Alexander

Leipzig (taz) – Unerträglich heiß ist es selbst im Schatten der hohen Plattenbauten von Leipzig-Grünau. Aber um 15 Uhr ist dieser arg verspätete Sommertag gerettet, denn Rico weiß ein neues Spiel: „Wer ist der Politiker?“, ruft der Junge mit der schwarzen HipHop-Mütze seinen Kameraden im Einkaufscenter zu. Die gucken aufs lange Podium: Fünf blau-weiß kleinkarierte Oberhemden, darüber fünf vierzig bis fünfzig Jahre alte, glattrasierte Männergesichter, darin fünf gefrorene Lächeln mit Zähnezeigen. Die Filialleiter von Allee-Center, Elektronikgeschäft und zwei weiteren Läden diskutieren seit 35 Minuten mit Wolfgang Tiefensee, SPD-Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, über fehlende Lehrstellen.

Rico und Co. erkennen den Politiker schließlich doch, „obwohl er so aussieht wie die anderen“. Da haben die Jungs etwas gemeinsam mit Gerhard Schröder. Der Bundeskanzler, nicht gerade berühmt für seine Kenntnisse über Ostdeutschland, ist auf den jungen Leipziger Stadtvater aufmerksam geworden. Vielleicht auch, weil Tiefensee, beobachtet man seine Amtsgeschäfte aus der Ferne, tatsächlich wie ein Manager wirkt. Ab Dezember wird er dem Bundesvorstand der SPD angehören. Gerhard Schröder möchte den 44-jährigen vierfachen Vater sogar noch näher an seiner Seite sehen. Tiefensee und Matthias Platzeck, heldenhafter Deichgraf in der Oderflut und OB in Potsdam, sind des Parteichefs Wunschkandidaten als seine Stellvertreter. Davon gibt es nur sechs.

Der Liebling des Parteivorsitzenden zu sein ist Tiefensee kein bisschen peinlich. „Ich mache Politik nach Schröder-Art“, bestätigt Tiefensee fast stolz eine Einschätzung der lokalen Bild-Zeitung. Er schränkt ein: Natürlich auf anderer Ebene, im Kleinen, aber im Prinzip doch. Was genau Schröder-Politik ist, darüber gehen die Meinungen zumindest im Allee-Center auseinander. „250-Mark-Zigarre, Bomber schicken, Renten kürzen!“, giftet eine Frau, die ihre übervollen Beutel mit den Einkäufen kaum tragen kann. Tiefensee sieht das anders: „Schröder zählt doch nur eins und eins zusammen.“ „Investieren statt konsumieren“ sei die Devise, daraus folge die Sparpolitik ganz logisch in der großen Bundesrepublik und in Tiefensees kleinem Leipzig, dessen Haushalt in den nächsten beiden Jahren um 100 Millionen Mark schrumpfen soll.

Aus den immergleichen Politikerformeln („punktgenaue soziale Förderung“) und Metaphern („nicht mit der Gießkanne“) reißt Tiefensee kein Lächen und kein Zorn – aber Zahlen. 6.000 Jugendliche haben in seiner Stadt keine Arbeit, weiß der Bügermeister genau, und nie würde er „soundsoviel Prozent“ sagen. Das Konkrete liegt ihm. Die Gegner von der PDS raunen sich ehrfürchtig zu, der Bürgermeister wisse nicht nur exakt, wie viele Kindertagesstätten er schließen ließ, sondern kenne auch die Vornamen der gefeuerten Erzieherinnen.

Vom Runden Tisch aus begann der gelernte DDR-Bürger Tiefensee den Aufbau einer demokratischen Verwaltung, um sich Jahre später als Profi-Politiker an die Spitze zu stellen. Sein Vorgänger und Mentor Hinrich Lehmann-Grube trug ihm 1995 das SPD-Parteibuch quasi zusammen mit dem Amt des Oberbürgermeisters an.

Kaum ein Jahr ist Tiefensee nun im Amt – und schon wieder ein gefragter Mann. „Ich mache nicht den neuen Landesvorsitzenden“, wiegelt er ab. Bei den Landtagswahlen am Sonntag erreichte die SPD gerade einmal zehn Prozent. Der gescheiterte Spitzenkandidat und Landesvorsitzende Karl-Heinz Kunckel trat sofort zurück. Sachsenland ist abgebrannt für die Genossen, aber Tiefensee meint nur: „Es ist nicht gelungen klarzumachen, dass der Aufbau Ost tatsächlich Chefsache ist.“ Im Klartext sagt er den Wählern damit: Ihr Deppen habt den Kanzler nicht verstanden!

Dass Tiefensee schon wieder für hohe Posten gehandelt wird, scheint ihm nur natürlich. „Man sucht im Moment eben Leute, die mit beiden Füßen auf dem Boden stehen!“, brummt er bescheiden und legt die hohe Stirn in Falten. Der Eindruck des Zögerns täuscht: Wolfgang Tiefensee ist ein Mann mit wenig Haaren, aber jeder Menge Ambitionen. Deshalb schreibt er Papiere über „Kommunalpolitische Leitsätze des SPD“, trifft sich mit Frankfurter Genossen und arbeitet Bundesinnenminister Otto Schily zu.

Ein Technokrat, zweifellos. Was soll so einer im Vorstand einer Partei, die Fahnen und Lieder kennt? „Wer Verwaltung organisieren kann, kann auch anderes organisieren.“ Partei ist für Tiefensee nicht Kirche und Heimat. Sondern ein kaltes Instrument, ohne das die Demokratie nicht auskommt. Leider.

Aber an zwei Abenden im Monat lässt das Stadtoberhaupt sein Rathaus hinter sich und die städtische Beteiligungsgesellschaft, den Aufsichtsrat der Leipziger Messe und die SPD-Kommission zur Kommunalpolitik. Jeden zweiten Dienstag steigt er in den taubengrauen Dienstmercedes (Kennzeichen: L-2000) und lässt sich ins „Bürgerbüro“ fahren. Dreißig Menschen versammeln sich hier heute im Stuhlkreis um Tiefensee herum. Leute, die sagen „Herr Bürgermeister“, als betonten sie heute noch den Unterschied zur SED-Anrede „Genosse Bürgermeister“. An der Decke hängt ein Originaltransparent von den Montagsdemos: „Kommt auch nach dem ersten Schnee/ Sonst freut sich die SED“. War es so an den Runden Tischen in der Zeit der friedlichen Revolution? So harmonisch?

In Tiefensees Bürgerbüro ist die res publica genauso wichtig wie die eigene Befindlichkeit, und über beides kann man miteinander sprechen. „Erzählen Sie Ihren Kindern vom Leben in der DDR“, schärft Tiefensee den nickenden Zuhörern ein. Plötzlich offenbart der Macher ein Menschenbild, das übers Image hinausgeht: „Ich möchte diese Stadt nicht so haben wie München oder Frankfurt. Und ich möchte auch die Menschen nicht so haben.“ Gibt es ein Fundament für Tiefensees Politik, so liegt es fern von Schröder und der SPD. Tiefer. Im Bürgerbüro entlässt Tiefensee seine Gemeinde mit einer Mahnung: „Wir sollen geschichtsbewusste Wesen sein – nicht Phoenix aus der Asche.“