Zum Millennium fordern die Bündnisgrünen eine Amnestie

■  Für zehntausende Gefangene sollen sich zum 1. Januar 2000 die Knasttüren öffnen. Grüne: Straferlass belegt den gefestigten Charakter der Demokratie

Berlin (taz) – Es gibt viel zu feiern – 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland und Grundgesetz, zehn Jahre Maueröffnung und den Jahrtausendwechsel. Für Bündnis 90/Die Grünen sind das Gründe genug, die Kampagne „Amnestie 2000“ zu starten. Sie wird heute in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt.

Geht es nach den Willen der Initiatoren, unter ihnen der innenpolitische Experte und Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele und die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, Renate Künast, öffnen sich zum 1. Januar 2000 für zehntausende Gefangene die Gefängnistore. Amnestiert werden sollen all jene Straftäter, gegen die bis zum 1. September 1999 eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr verhängt wurde. Reststrafen von bis zu drei Jahren sollen halbiert werden. Ausgenommen werden Straftäter, bei denen nicht sichergestellt ist, dass von ihnen keine Bedrohung mehr für die Gesellschaft ausgeht.

Mit Amnestie 2000 haben sich die Grünen halbherzig als Partei der demokratischen Rechte zurückgemeldet. Denn unberücksichtigt bleiben Strafgefangenen, die schon seit vielen Jahren im Knast sitzen.

Eine Amnestie, so Ströbele und seine Mitstreiter, sei kein Zeichen von Schwäche, sondern ein wichtiger Beitrag zur Resozialisierung straffällig gewordener Menschen. Und die Republik brächte damit zum Ausdruck, dass die staatliche Ordnung mittlerweile gefestigt sei. Für eine Amnestie spreche auch, dass nur haftentlassene Straftäter zugefügte Schäden wieder gutmachen könnten. Die Amnestie-Befürworter erinnern daran, dass die Bundesrepublik bislang im Vergleich zu Ländern wie Italien, Frankreich oder auch Österreich recht sparsam von der Möglichkeit eines Straferlasses Gebrauch gemacht hat. Tatsächlich trat das letzte Gesetz für eine allgemeine Amnestie 1954 in Kraft.

Amnestie 2000 hat nicht nur wegen der kurzen Frist bis zum Jahrtausendwechsel wenig Aussicht auf Erfolg. Denn nicht erst seit dem Skandal um den Freigänger Dieter Zurwehme stehen „Privilegien“ wie vorzeitige Haftentlassung und Freigang auf dem Prüfstand. Kein Wunder also, dass der Aufruf beim Koalitionspartner SPD auf Skepsis stößt. Im Justizministerium ist von einer Amnestie 2000 bislang nichts bekannt. Und das Mitglied des Innenausschusses, Eckhardt Barthel (SPD), lehnt die Initiative zwar nicht prinzipiell ab. Allerdings gibt er zu bedenken: „Allein im Bereich Rechtsextremismus gibt es viele Gewalt- und Wiederholungstäter, die zu Strafen unter einem Jahr verurteilt werden.“

Aber das ist wahrscheinlich auch nicht die Klientel, die Ströbele und Künast bei ihrem Entwurf vorschwebte. Eher schon der Altkommunarde Dieter Kunzelmann. Seit Mitte Juli sitzt er eine elfmonatige Haftstrafe wegen Eierwürfen auf Berlins Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen ab. Er käme zweifelsfrei in den Genuss einer Amnestie. Eberhard Seidel