Mephisto Mengele

„Flucht nach Mitte“: George, Richter und die Gespenster des Geschichtsrevisionismus  ■ Von Jan Distelmeyer

In einem Interview hat Götz George kürzlich erklärt, wie Schimanski zu seiner Jacke kam. Er, George, habe sie in einem Schaufenster gesehen und von da an gegenüber Regisseur und Produzent darauf bestanden, das beige Ding tragen zu müssen: „Wir haben uns die Köpfe bis in die Nacht heißgequasselt, fortwährend ging es um die Jacke – eine Grundsatzdiskussion wie 1968.“ Dieser Vergleich ist schön, und er passt in seiner Absurdität außerdem in einen schon länger aktuellen Trend, der mit Identifikation und Geschichte zu tun hat.

Was Hannah Arendt bei ihrem „Besuch in Deutschland“ 1949/50 über die verdrängende und Identität stiftende Funktion des Vergleichs (Hitler und Stalin, Nationalsozialismus und Kommunismus) erfahren hat, würde ihr heute – im Jahre neun nach der zweiten „Stunde Null“ – an jeder Ecke begegnen. So wie das Schimanski-Jacken-Palaver etwas vom Geist der 68er atmet, so klar werden heute rückblickend „die Schrecken“ des Nationalsozialismus und des Kommunismus im Angesicht eines „Jahrhunderts der Ideologien“ zusammengeklittert. DDR und NS-Deutschland waren und sind offiziell vergleichbar, was in dem ungeheuren Begriff „Auschwitz in den Seelen“ gipfelte, der die Kontrolle durch die Stasi bezeichnen sollte. Jüngere Höhepunkte: „KZs“ existieren natürlich auch in Yugoslawien, Milosevic und Hitler sind Brüder im Geiste, und die Regierenden der deutschen „Neuen Mitte“ sehen im Kosovo in „die Fratze unserer eigenen Geschichte“.

Mit dieser Welle des Geschichts-revisionismus ist Götz George seit heute auch auf eine andere Weise verbunden. In Roland Suso Richters Nichts als die Wahrheit bringt er den ehemaligen KZ-Arzt Josef Mengele auf die Leinwand. Der nämlich ist entgegen aller Vermutungen noch am Leben und stellt sich in Berlin der deutschen Justiz. Das oder Ähnliches war vielleicht absehbar – immerhin gilt Götz George spätestens seit seiner hervorragenden Leistung in Karmakars Totmacher (1995) als der anerkannt beste deutsche Filmschauspieler und Nicht-mehr-bloß-Schimanski, weil ihn etwas auszeichnet, was hierzulande wenigen sonst gegeben ist: Präsenz. Er füllt Räume, reißt Aufmerksamkeit und ganze Filme an sich und stellt dadurch eine persönliche, spürbare Nähe her, die zwischen Faszination, Sympathie und Ekel oszilliert.

Gerade für das Abgründige scheint der Star George damit prädestiniert; und was gibt es Abgründigeres als den „Todesengel von Auschwitz“? Doch während im Totmacher Georges Präsenz durch räumlich-zeitliche Enge und eine Strenge der Inszenierung konterkariert wurde, stützt sich die Dramaturgie in Nichts als die Wahrheit gänzlich auf den Überschurken als untoten Widergänger der deutschen Geschichte. Mit langen Fingernägeln, theatralischer Gestik, weißem Kahlkopf und schwarzem Anzug pendelt Georges Mengele zwischen Nosferatu und Mephisto weit jenseits der Banalität des Bösen. Und wie Dracula seinen Renfield scheint auch Mengele den bislang integeren Verteidiger und Mengele-Forscher Rohm (Kai Wiesinger) mit dem Bösen zu infizieren, dessen Stellvertreter auf Erden er ist.

Deutschlands größter Schauspieler spielt Deutschlands berühmt-berüchtigsten Arzt. Das heißt: Der Mythos Mengele wird mit der vitalen Legende George belebt und überschrieben, in der sich die großen Antagonisten der deutschen Filmkunst einfinden. Was Nichts als die Wahrheit so problematisch macht, ist nicht allein diese Inthronisation des Mythos/Monsters Mengele, sondern vor allem die Entideologisierung dieser Figur und dessen, was hier nur „diese Zeit“ heißen darf. In dieser apolitischen Entnazifizierung muss Ideologie an sich eine diffuse Bedrohung bleiben, mit der niemand, selbst Mengele nicht, etwas zu tun haben will. Auch dies ist die panische Flucht nach „Mitte“: Während Mengeles Taten vor Gericht verlesen werden, zeigt die Kamera vor dem Gerichtsgebäude eine Massenschlägerei. Antifaschisten gegen Neonazis, die als Nachfahren Mengeles im Gemenge nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.

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