Arme Bürgerrechtler

Die Opferverbände der SED-Diktatur haben kein Geld, viel Frust über die Nach-Wende-Karrieren alter SED-Kader und ein paar gemeinsame Ziele  ■   Von Philipp Gessler

„Wir leben von der Hand in den Mund“, sagt Andreas Bertram vom „Bürgerbüro“. Heute muss er sich schon über eine 50-Mark-Spende freuen.

Josef Budek hat den Schlüssel. Den Schlüssel. Er öffnet die Holztür zum Ministertrakt, vorbei an dem Besprechungssaal, wo im Herbst 1989 die „chinesische Lösung“ erwogen wurde, hinein in das Ministerbüro. In dem holzverkleideten Raum steht ein mächtiger Schreibtisch, darauf eine Gipsmaske Lenins. Hier saß Budeks größter Feind: Erich Mielke, letzter Chef des DDR-Ministeriums für Staatsicherheit, der Stasi.

Bis 1989 unterdrückte die Stasi ein ganzes Volk von 18 Millionen. Bis Leute wie Budek kamen und den staatlichen Überwachungsapparat in der Lichtenberger Normannenstraße am 15. Januar 1990 stürmten – jetzt hat der ehemalige Staatsfeind Budek den Schlüssel zum Allerheiligsten von „Horch und Guck“: einen extra nachgemachten Zentralschlüssel. Der Rohling stammt aus Resten der DDR-Schlüsselproduktion. Schlüssel aus dem Westen würden nicht passen. Das Herz der Stasizentrale, das „Haus 1“, steht unter Denkmalschutz. Neue Schlösser dürfen nicht eingebaut werden. Die DDR ist Geschichte.

Um die Opfer kümmern sich allein in der Normannenstraße, dem Dienstsitz Mielkes, fünf verschiedene „Opferverbände und Aufarbeitungsinitiativen“, wie sie in der Szene heißen. Ihre Namen sind meist kompliziert und lang: Da ist die „Astak: Antistalinistische Aktion. Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße“, deren Vorstandsvorsitzender Budek ist, „Help. Hilfsorganisation für die Opfer politischer Gewalt in Europa“, der „Bund der Stalinistisch Verfolgten (BSV)“, das „Bürgerkomitee '15. Januar‘ zur Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit“ oder das „Forum zur Aufklärung und Erneuerung“.

Allein in der früheren „Hauptstadt der DDR“ gibt es etwa zwei Dutzend Vereine, die sich um die Bewältigung der zweiten deutschen Diktatur und Hilfe für die kümmern, die sie geschädigt hat. Insgesamt schätzt Budek die Zahl der Aufarbeitungsinitiativen – vor allem Archive, Bildungseinrichtungen oder Dokumentationszentren – und Opferverbände auf gut 60 bundesweit, ein Flickenteppich kleiner und kleinster Organisationen mit dem chaotischen Charme von Bürgerinitiativen.

„Vielfalt ist immer etwas Gutes“, sagt Andreas Otto, der Geschäftsführer der Robert-Havemann-Gesellschaft. Sie ist hervorgegangen aus der „Umweltbibliothek Berlin“ der Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg, einem Zentrum der Opposition in der DDR. Jetzt verwaltet die Gesellschaft die Unterlagen der Bürgerrechtsbewegung in der „Wendezeit“ sowie den Nachlass des führenden Dissidenten der Sechziger- und Siebziger Jahre, Robert Havemann, Übervater der Widerstandsgruppen im SED-Staat. So vielfältig wie die Bürgerbewegung 1989, sagt Otto, sei auch das Spektrum der Vereine, die damals entstanden und noch heute existieren. Die Zersplitterung in viele Initiativen sei kein Problem, man dürfe die existierenden Streitigkeiten nicht überbewerten.

Wie heftig die Auseinandersetzungen dennoch sein können, zeigte sich letzte Woche, als in der Normannenstraße die „Mediathek Haus 1“ eröffnet wurde. Auch sie sammelt Bücher, Dokumente und Presseartikel zur DDR und ihrer Opposition. Schwerpunkt: die Arbeitsweise der Stasi und ihre Auflösung am 15. Januar 1990. Jahre hat es gedauert, bis die Vereine im Haus 1 sich einigen konnten, ihre Unterlagen zusammenzustellen – der Astak-Vorsitzende Budek urteilt: „Besitzstandsdenken.“

Das liegt daran, dass die Initiativen in der Regel unter extremem Geldmangel leiden. Stellen können oft nur mit ABM-Geldern finanziert werden, die wiederum nur genehmigt werden, wenn die Vereine hohe Besucherzahlen oder den Besitz vieler Dokumente nachweisen können: Deshalb gab in der Normannenstraße lange niemand seine Schätze her, „jeder musste was vorweisen“, erklärt der Astak-Chef.

Der Kuchen öffentlicher Mittel wird immer kleiner, das kriegen alle Vereine zu spüren. Der Frust ist groß. In der Bernauer Straße, direkt gegenüber einem jämmerlich kleinen Rest der Berliner Mauer, freut sich Andreas Bertram, der einzige hauptamtliche Mitarbeiter des „Bürgerbüros“, schon über einen 50-Mark-Schein, der an einen Brief geklammert ist. Fast nur von Spenden lebt der Verein, der nach einem spektakulären Treffen zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und Bürgerrechtlern in der Wohnung der Oppositions-Ikone Bärbel Bohley 1996 gegründet wurde. „Wir leben von der Hand in den Mund“, sagt Bertram, gekleidet mit T-Shirt, Wollpullover und Sandalen. Der Theologe durfte in der DDR keine berufliche Ausbildung machen, da er den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ der Friedensbewegung partout nicht von seiner Jacke entfernen wollte.

Einen „politischen Skandal“ nennt er es, dass die PDS-nahe „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ mehr als doppelt so viel Geld bekomme wie die „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“, die aus der Enquete-Kommission des Bundestags zur DDR-Geschichte entstand. An der Bundesstiftung und ihren Geldtöpfen hängen viele der Opferverbände. Aber die Stiftung selbst hat kein Kapital, sie ist abhängig von Überweisungen aus der Bundeskasse. Je nach Haushaltslage kann es mehr oder eher weniger Geld geben, und der Bundeshaushalt für das kommende Jahr steht immer noch nicht.

Bei den Aufarbeitungsinitiativen und Opferverbänden sind westdeutsche „Kommunistenfresser“ ebenso zu finden wie ostdeutsche Bürgerrechtler, die sich als Linke begreifen und zu Wendezeiten noch davon träumten, aus der DDR durch Reformen einen besseren, freien sozialistischen Staat zu machen. Sie vereine, meint der Theologe Andreas Bertram, ihr „Entsetzen“ darüber, dass die, die sich in der DDR für demokratische Rechte einsetzten und deshalb Ausgrenzung, Drangsalierung oder gar Haft erlitten hätten, nun vielfach in der Bittstellerposition wären. Viele müssten lange um Rehabilitierung, Entschädigung oder gar um Sozialhilfe kämpfen – abgefertigt von Verwaltungsangestellten, die schon zu DDR-Zeiten über ihr Schicksal bestimmten.

Der Astak-Chef Budek kann ein Lied davon singen. In der DDR verlor der Theater- und Musikwissenschaftler nach kritischen Vorschlägen seine Arbeit im Kulturministerium, durfte nichts mehr veröffentlichen, erhielt keine Arbeit, wurde wegen seines Engagements in der Friedensbewegung verhaftet und nach einem Dreivierteljahr Gefängnis 1984 von der Bundesrepublik freigekauft.

Die Stasi, lässt er durchblicken, sei immer noch aktiv. Es gebe eine Todesliste für Verräter. Sie sei vor zwei Jahren angebracht worden an dem Berliner Denkmal für den „Republikflüchtling“ Peter Fechter, der von DDR-Grenzern an der Mauer erschossen worden war: Von den sieben Menschen, deren Namen dort standen, seien vier in letzter Zeit unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen: mit Kugel im Kopf aufgefunden, erhängt, im Flugzeug abgestürzt, tödlich verletzt bei einem Autounfall.

Mit seinem Schlüssel schließt Budek das Haus 1 ab. Er nimmt noch Mike Fröhnel, ebenfalls arbeitslos, in seinem Mercedes mit zum Alex. Der 34-Jährige war zu DDR-Zeiten sechs Jahre in Haft – unter anderem, weil er Kontakte zu Dissidenten in Prag hatte. Am 30. November 1989, drei Wochen nach dem Mauerfall, wurde er entlassen: Er hat seine Strafe bis zum letzten Tag abgesessen.